
Die Kriminalisierung der Protestler gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm als Terroristen, die Diskussion um die weiträumige Funkzellenauswertung anlässlich der Anti-Nazi-Demo in Dresden 2011 und das Gutachten des Bundesdatenschutzbeauftragten zum Staatstrojaner zeigen deutlich die gesellschaftlichen Defizite bei der Begrenzung der Überwachung.
Der teilweise erfolgreiche Widerstand der Zivilgesellschaft gegen Vorratsdatenspeicherung, Zugangserschwernissgesetz, Online Durchsuchung, Großer Lauschangriff usw. reicht nicht aus. Die gesellschaftlich ausgehandelten Normen (Gesetze, Urteile des BVerfG…) zur Begrenzung der Überwachung werden nicht respektiert und scheinbar systematisch und ohne Konsequenzen für die Verantwortlichen missachtet.
Gedanken für eine Gegenstrategie
1. Die Einhaltung der Normen für Polizei und Geheimdienste, die in einer demokratischen Diskussion ausgehandelt und als Gesetze bzw. Urteile des BVerfG niedergeschrieben sind, muss besser kontrolliert werden. Eine optionale Kontrolle ist unbrauchbar. Auf der Veranstaltung Soziale Bewegungen im Digitalen Tsunami hat Dr. Thilo Weichert (ULD) die Situation aus Sicht des Datenschutz treffend beschrieben: Die Polizeibehörden fragen uns nur, wenn sie wissen, das wir unser Ok geben.
2. Verstöße der Strafverfolger gegen geltendes Recht müssen geahndet wer- den, so wie es bei Verstößen gegen Gesetze auf anderen Gebieten üblich ist. Bisher agieren Strafverfolger scheinbar in einem “rechtsfreien Raum“. Übertretungen der zulässigen Grenzen haben keine oder (bei starkem öffentlichen Druck) harmlose Konsequenzen.
3. Die Besetzung der Posten von Entscheidungsträgern bei Polizei und Geheimdiensten sollte mit Personen erfolgen, die sich dem ausgehan- delten Konsens verpflichtet fühlen. Wenn der neue Polizeipräsident von Dresden die weiträumige Funkzellenüberwachung in Dresden für richtig hält und in einer ähnlichen Situation wieder zu diesem Mittel greifen will, obwohl es für rechtswidrig erklärt wurde, dann ist er für die Aufgabe ungeeignet. Udo Vetter stellt im lawblog die Frage: „Wurde hier bewusst auf dem Rechtsstaat rumgetrampelt – oder sind die Verantwortlichen einfach so doof?“
4. Auf Basis des §129a StGB (Bildung einer terroristischen Vereinigung) wurden in den letzten Jahren so gut wie keine Verurteilungen ausgesprochen. Die sehr weit gehenden Befugnisse für Ermittlungen nach diesem Paragraphen wurden jedoch mehrfach genutzt, um politische Aktivisten auszuforschen. Mehrfach haben verschiedene Gerichte die Anwendung des §129a StGB durch Ermittlungsbehörden für illegal erklärt.
Doppeleinstellung in Sachen §129
Razzien im Vorfeld des G8-Gipfels waren rechtswidrig
Konstruieren und schnüffeln mit §129a
Durchsuchung beim LabourNet waren rechtswidrig
Dieser Missbrauch der Anti-Terror Befugnisse sollte gestoppt und evaluiert werden.
Bundesamt für Verfassungsschutz auflösen
Es wird Zeit, das Bundesamt für Verfassungsschutz aufzulösen. Die Humanistische Union fordert bereits seit 20 Jahren die Auflösung dieses Inlandgeheimdienstes. Seine Aufgabe als Bollwerk gegen die drohende Infiltration feindlicher Agenten aus der Sowjetunion oder der DDR besteht nicht mehr. Anti-Spionage und Anti-Terror Einsätze sowie Bekämpfung der Korruption und Verfolgung von Sachbeschädigungen sind Aufgabe der Polizei.
V-Leute sind keine Lösung, sondern das Problem
„Geheimdienste (…) sind nach wie vor die große Unbekannte in der Entstehung und Entwicklung des Terrorismus, des bundesdeutschen ebenso wie des mit ihm verflochtenen internationalen Terrorismus.“ W. Kraushaar
V-Leute des Verfassungsschutz hatten erheblichen Anteil an der Radikalisierung der Studentenbewegung 1968. Vor allem der V-Mann Peter Urbach wird immer wieder als Agent Provocateur genannt, der auch Waffen und Molotow-Cocktails lieferte und nach seiner Enttarnung vom Verfassungsschutz ins Ausland gebracht wurde.
Die Verflechtungen von Verfassungsschutz und RAF sind noch immer nicht aufgeklärt. Aus alten Unterlagen der Stasi geht hervor, dass Verena Becker vom Verfassungsschutz ”kontrolliert wurde”. V. Becker spielte eine wesentliche Rolle beim Mord an Generalbundesanwalt Buback.
Der Verfassungsschutz hat die rechtsradikale Szene nicht unterwandert, sondern finanziell unterstützt und vor Strafverfolgung geschützt.
Laut einem BKA-Report von 1997 soll der Verfassungsschutz rechtsradikale Neonazis systematisch geschützt haben. Die Vorwür- fe werden mit konkreten Fällen untermauert. V-Leute wurden vor Durchsuchungen gewarnt und einer Straftat überführte Nazis wurden nicht angeklagt und verurteilt, wenn sie als V-Leute arbeiteten. Informationen wurde zu spät an die Polizei weitergeleitet, so dass rechtsradikale Aktionen nicht mehr verhindert werden konnten.
Bereits 2002 hat das LKA Sachsen-Anhalt dem Verfassungsschutz misstraut und aus ermittlungstaktischen Gründen nicht über Exekutivmaßnahmen in der rechten Szene informiert. Aus einem Vermerk des Bundesinnenministeriums: „Nach Rücksprache (…) stützen sich die “ermittlungstaktischen Gründe“ vermutlich auf die Befürchtung, die Verfassungsschutz- behörden würden ihre Quellen über bevorstehende Exekutivmaßnahmen informieren.“
2008 wurden Ermittlungen gegen den Neonazi Sebastian Seemann eingestellt. Er baute das verbotene Blood and Honour Netzwerk auf und war im kriminellen Milieu aktiv (Drogen- und Waffenhandel). Der Verfassungsschutz warnte ihn vor Exekutivmaßnahmen. Auf Veranlassung des Innenministers Dr. Ingo Wolff wurden auch Anklagen gegen die Mitarbeiter des Verfassungsschutz wegen Geheimnisverrats und Strafvereitelung eingestellt. Das ist seit mehreren Jahren bekannt. Bislang ohne Konsequenzen.
Die mit großen Paukenschlag verurteilte Sauerländer Terrorzelle wurde vom V- Mann Mevlüt Kar gegründet und für die Vorbereitung gigantischer Terroranschläge mit Sprengzündern usw. versorgt. Die Sauerlandgruppe war der dritte Versuch von Mevlüt Kar, eine Terrorzelle aufzubauen und an die Behörden zu verraten. M. Kar wurde nie angeklagt.
Die erste Terrorzelle mit Mutlu A., Mohamed El-A. und Issam El-S wurde am 17. Februar 2003 von der GSG9 verhaftet und am gleichen Tag aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen.
Die Verhaftung der zweiten Terrorzelle mit Dzavid B., Nedzad B., Ahmed H., Bekim T. und Blerim T. wurde von den Medien weitgehend ignoriert.
Ein weiterer V-Mann des Verfassungsschutz in der islamistischen Szene war Yehia Yousif, der mittlerweile in Saudi-Arabien lebt und auch eine Schlüsselrolle in der Radikalisierung der Sauerland Gruppe spielte. Yousif hat wesentlich zum Erstarken salafistischer Gruppen beigetragen.
Die Globale Islamische Medienfront (GIMF) drohte 2007 in Videos mit Terroranschlägen in Deutschland. Im Gerichtsverfahren gegen Mitglieder der GIMF kam heraus, dass der Anführer dieser Gruppe ein V-Mann des Verfassungsschutzes war. Irfan P. soll monatlich 2.500 – 3.000 Euro vom Verfassungsschutz erhalten haben. Gegen den V-Mann wurde ebenfalls keine Anklage erhoben.
Die Rolle des Verfassungsschutzes bei den systematischen Pannen im Rahmen der Ermittlungen zur rechtsradikalen NSU Terrorzelle wird sicher nicht vollständig aufgeklärt werden. Ohne die zweifelhafte Rolle der V-Leute würden wir ruhiger leben und viele Sicherheitsgesetze wären nicht durchsetzbar gewesen.
Überwachung politischer Aktivisten
Der Verfassungsschutz entwickelt sich zu einem Geheimdienst zur Überwachung von politischen Aktivisten und unliebsamen Abgeordneten.
R. Gössler: 38 Jahre zu Unrecht vom Verfassungsschutz überwacht Verfassungsschutz in Bayern überwacht die linke Szene Überwachung einer linken Gruppe durch Verfassungsschutz Verfassungsschutz bespitzelt linke Abgeordnete Gegner von Stuttgart21 vom Verfassungsschutz überwacht mg-Überwachung durch den Verfassungsschutz war illegal Ohne demokratische Kontrolle (BfV in Bayern)
„Ich habe doch nichts zu verbergen“
Dies Argument hört man oft. Haben wir wirklich nichts zu verbergen? Einige Beispiele sollen exemplarisch zeigen, wie willkürlich gesammelte Daten unser Leben gravierend beeinflussen können:
Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung für Piloten wurde Herr J. Schreiber mit den vom Verfassungsschutz gesammelten Fakten konfrontiert:
1. Er wurde 1994 auf einer Demonstration kontrolliert. Er wurde nicht angezeigt, angeklagt oder einer Straftat verdächtigt, sondern nur als Teilnehmer registriert.
2. Offensichtlich wurde daraufhin sein Bekanntenkreis durchleuchtet.
3. Als Geschäftsführer einer GmbH für Softwareentwicklung habe er eine vorbestrafte Person beschäftigt. Er sollte erklären, welche Beziehung er zu dieser Person habe.
4. Laut Einschätzung des Verfassungsschutzes neige er zu politischem Extremismus, da er einen Bauwagen besitzt. Bei dem sogenannten Bauwagen handelt es sich um einen Allrad-LKW, den Herr S. für Reisen nutzt (z.B. in die Sahara).
Für Herrn S. ging die Sache gut aus. In einer Stellungnahme konnte er die in der Akte gesammelten Punkte erklären. In der Regel wird uns die Gelegenheit einer Stellungnahme jedoch nicht eingeräumt.
Ein junger Mann meldet sich freiwillig zur Bundeswehr. Mit sechs Jahren war er kurzzeitig in therapheutischer Behandlung, mit vierzehn hatte er etwas gekifft. Seine besorgte Mutter ging mit ihm zur Drogenberatung. In den folgenden Jahren gab es keine Drogenprobleme. Von der Bundeswehr erhält er eine Ablehnung, da er ja mit sechs Jahren eine Psychotherapie durchführen musste und Drogenprobleme gehabt hätte.
Kollateralschäden: Ein großer deutscher Provider liefert falsche Kommunikationsdaten ans BKA. Der zu Unrecht Beschuldigte erlebt das volle Programm: Hausdurchsuchung, Beschlagnahme der Rechner, Verhöre und sicher nicht sehr lustige Gespräche im Familienkreis. Die persönlichen und wirtschaftlichen Folgen sind schwer zu beziffern.
Noch krasser ist das Ergebnis der Operation Ore in Großbritannien. 39 Menschen, zu Unrecht wegen Konsums von Kinderpornografie verurteilt, haben Selbstmord begangen, da ihnen alles genommen wurde.
“Leimspur des BKA”: Wie schnell man in das Visier der Fahnder des BKA geraten kann, zeigt ein Artikel bei Zeit-Online. Die Webseite des BKA zur Gruppe “mg” ist ein Honeypot, der dazu dient, weitere Sympathisanten zu identifizieren. Die Bundesanwaltschaft verteidigt die Maßnahme als legale Fahndungsmethode.
Mit dem im Juni 2009 beschlossenen BSI-Gesetz übernimmt die Behörde die Aufzeichnung und unbegrenzte Speicherung personenbezogener Nutzerinformationen wie IP-Adressen, die bei der Online- Kommunikation zwischen Bürgern und Verwaltungseinrichtungen des Bundes anfallen. Ich kann daraus nur den Schluss ziehen, diese und ähnliche Angebote in Zukunft ausschließlich mit Anonymisierungsdiensten zu nutzen. Nicht immer treten die (repressiven) Folgen staatlicher Sammelwut für die Betroffenen so deutlich hervor. In der Regel werden Entscheidungen über uns getroffen, ohne uns zu benachrichtigen. Wir bezeichnen die (repressiven) Folgen dann als „Schicksal“.
Politische Aktivisten
Wer sich politisch engagiert und auf gerne vertuschte Missstände hinweist, hat besonders unter der Sammelwut staatlicher Stellen zu leiden. Wir möchte jetzt nicht an Staaten wie Iran oder China mäkeln. Einige deutsche Beispiele:
1. Erich Schmidt-Enboom veröffentliche 1994 als Publizist und Friedensforscher ein Buch über den BND. In den folgenden Monaten wurden er und seine Mitarbeiter vom BND ohne rechtliche Grundlage intensiv überwacht, um die Kontaktpersonen zu ermitteln. Ein Interview unter dem Titel “Sie beschatteten mich sogar in der Sauna” gibt es bei SPON.
2. Fahndung zur Abschreckung: In Vorbereitung des G8-Gipfels in Heiligendamm veranstaltete die Polizei am 9. Mai 2007 eine Großrazzia. Dabei wurden bei Globalisierungsgegnern Rechner, Server und Materialien beschlagnahmt. Die Infrastruktur zur Organisation der Proteste wurde nachhaltig geschädigt. Wenige Tage nach der Aktion wurde ein Peilsender des BKA am Auto eines Protestlers gefunden. Um die präventiven Maßnahmen zu rechtfertigen, wurden die Protestler als terroristische Vereinigung eingestuft. Das Netzwerk ATTAC konnte 1,5 Jahre später vor Gericht erreichen, dass diese Einstufung unrechtmäßig war. Das Ziel, die Organisation der Proteste zu behindern, wurde jedoch erreicht.
3. Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitherausgeber des Grundrechte-Reports, Vizepräsident und Jury-Mitglied bei den Big Brother Awards. Er wurde vom Verfassungsschutz 38 Jahre lang überwacht. Obwohl das Verwaltungsgericht Köln bereits urteilte, dass der Verfassungsschutz für den gesamten Bespitzelungszeitraum Einblick in die Akten gewähren muss, wird dieses Urteil mit Hilfe der Regierung ignoriert. Es werden Sicherheitsinteressen vorgeschoben!
Mit dem Aufbau der “neuen Sicherheitsarchitektur” bedeutet eine Überwachung nicht nur, dass der direkt Betroffene überwacht wird. Es werden Bekannte und Freunde aus dem persönlichen Umfeld einbezogen. Sie werden in der AntiTerrorDatei gespeichert, auch ihre Kommunikation kann überwacht werden, es ist sogar möglich, Wanzen in den Wohnungen der Freunde zu installieren. Es betrifft also jede/n. von uns.