Wozu benutzen wir unser Smartphone? Häufig dient es zum Abgleich mit Verwandten, Freunden und Bekannten: Was macht XY? Wo ist NZ? Was denkt XYZ über diesundjenes? und “Sehen wir uns später um neun vor dem Cafe?”. Wir teilen gerne unsere Gefühle, Gedanken und Lebensumstände mit unseren Freunden. Selber möchten wir um ihr Leben wissen und mehr noch möchten wir wissen, wann sie was wo tun, um daran teilzuhaben. Welche Erscheinungen gehen mit dieser Form der Synchronisation einher?
Die Flimmerkiste als Metronom
In den 1960er Jahren hatten die meisten Menschen in Europa ähnliche Tagesabläufe. Das Frühstück mit der Zeitung, der Weg zur Arbeit, das Mittagessen in der Kantine, das Verlassen der Arbeitsstelle um abends im Fernsehen, die Nachrichten der wenigen Sender die es damals gab, mit der Familie zu schauen. Dies betraf eher die männliche Bevölkerung. Für die Hausfrauen und Mütter taktete der Mann und die Kinder den Alltag. Diese routinierten Abläufe im Leben vieler Arbeiter und Angestellten hatten sicherlich eine stabilisierende Wirkung auf die vom Krieg traumatisierten Gesellschaft. Routinen und Rituale waren weniger stark diversifiziert als heute.
Das abendlichen Nachrichtenprogramm brachte zu einer feste Uhrzeit Millionen Menschen das scheinbar wichtigste Weltgeschehen ins Wohnzimmer und trug damit einen wichtigen Beitrag zur Errichtung und Verfestigung von gesellschaftlichen synchronen Gewohnheiten. Die präsentierten Informationen waren das Resultat der Auswahl einiger weniger Personen der Sendeanstalten. Wer am nachrichtentechnischen Narrativ des Bewegtbildes teilhaben wollte, hatte faktisch keine andere Möglichkeiten, als um eine bestimmte Uhrzeit den Fernseher einzuschalten und die Sichtweise dieser einen Perspektive zu verfolgen. Zwar bestand die Möglichkeit, am nächsten Tag die Nachrichten in einer Zeitung zu lesen, die Teilnahme an kollektiver Bedeutungszuschreibungen von bewegten Nachrichtenbildern, blieb den ausschließlichen Zeitungslesern jedoch verwehrt.
Die Kraft, die von den ausgestrahlten Bildern (Kinder flüchten vor Napalm-Angriffen im Vietnamkrieg), während des Vietnamkrieg ausging, hatte maßgeblichen Einfluss auf die amerikanische Innen- und Außenpolitik. Bei vielen Menschen hat sich das Bild des durch den Napalm verbrannten nackten Mädchens Kim Phúc ins visuelles Gedächtnis eingebrannt. Der ritualisierte Konsum der Massenmedien ließ eine Synchronisierung über breite Bevölkerungsschichten zu. Gleichzeitig war die mediale Interpretationsvielfalt weitaus geringer als heute. Die Bedeutungszuschreibung war wesentlich einfacher weil die meisten Menschen die gleichen Medien zur gleichen Zeit konsumierten.
Taktwechsel: Vom Wiener Walzer zu Gabber
Die Verflüssigung des Raumes durch die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien wandelten die Kesselpauken eines klassischen Orchesters in ein Double-Bass Gewitter, die unablässig den Rhythmus unseres Lebens fragmentieren. Der Takt bestimmt in der Musik die Zeit, in der verschiedene Noten abgespielt werden müssen. Der Takt wird durch das Aufheben und Niederschlagen der Hand des Dirigenten angezeigt. In einem Strom permanenter Informationen und Daten geraten die ehemaligen Dirigenten der Massenmedien ins Hintertreffen. Zu groß ist das Angebot und zu unabhängig sind wir von zeitlichen Vorgaben der klassischen Medien geworden.
Den Dirigentenstab führen wir zunehmend selbst, in dem wir unsere Peer-Groups, unser Freunde, Familie, Arbeitskollegen und Kunden über unser Tun und Sein informieren. Jede gelesene Statusmeldung bei Facebook synchronisiert uns auf die aktuelle Version des Profilinhabers. Dadurch, dass in kürzere Zeit öfter, schneller und über räumliche Grenzen hinweg interagiert werden kann, entsteht in der interaktionslosen Zeit der Ruhe, ein gefühltes oder sogar ein tatsächliches Defizit. Man hat Zeit vertan, vergeudet oder verstreichen lassen, wenn nicht interagiert wurde. Funklöcher und Bandbreitendrosselung verschaffen nervöse Momente. In der Omnipräsenz des Netzes, das erst durch unsere mobilen Endgeräte faktisch wird, gibt es immer etwas zu tun – immer eine Nachricht oder ein Ereignis, die uns den Takt in unseren Handlungsabläufen vorgeben.
Ad-hoc-Synchronisation
Nie zuvor war es einfacher, sich unabhängig von raumzeitlich Hindernissen mit Menschen auf unterschiedlichster Ebene zu synchronisieren. Wir sind up-to-date. Dienste wie Facebook und Twitter synchronisieren eine asynchron gewordene Gesellschaft. Zwar folgt die Synchronisierung einer zeitlichen Linearität, doch auch asynchrone Kommunikationsformen synchronisieren uns. Dabei beschränkt es sich jedoch nicht, auf den kleinen Kreis von uns bekannter Personen: Wir haben das Gefühl, dass wir uns jederzeit mit jedem weltweit vernetzen können oder zumindest die in Medienformen abstrahierte Wirklichkeit uns fremder Länder und Gesellschaften zu verfolgen. Ein wesentlicher Teil der Echtzeitkommunikation dient zur Synchronisierung der eigenen Lebenshandlungen- und Vorstellungen mit Anderen. Diese “Anderen” umfassen unsere Peergroups die aus wenigen Personen bestehen ebenso wie abstrakte weltweite Gemeinschaften, die wir, je nach Zusammenhang, als Leidensgenosse, Mitstreiter, Fans oder ähnliche wahrnehmen.
Hast Du Lust Dich mit mir zu synchronisieren?
Der Individualismus, der uns eine Freiheit der Wahl zwischen unseren gesellschaftlichen Teilhaben suggeriert, stößt spätestens dann an seine Grenzen, wenn anstelle von Verbindlichkeiten. Möglichkeiten gesetzt werden. Die Möglichkeit hat im Gegensatz zur Verbindlichkeit kein normative Dimension: Du kannst – Du musst aber nicht. Die Freiheiten der Möglichkeit stehen der Unmöglichkeit der Verbindlichkeit gegenüber. Wobei der Egoismus die Verbindlichkeit des Anderen schätzt und die Möglichkeit bei sich erhalten möchte.
Eine Verbindlichkeit besitzen Rituale. Sie haben eine normative Dimension und stehen nicht als nur bloße Möglichkeit zur Disposition. Wer an Ritualen zwecks gemeinsamer Synchronisierung nicht teilnehmen kann, braucht einen triftigen Grund, der in einer anderen schwerwiegenden Verbindlichkeit bestehen sollte. Im katholischen Rheinland der 50er Jahre (oder im ländlichen Bayern des 21. Jahrhunderts) dürften die Organisationsleistungen für die in der Freizeit praktizierten gesellschaftlichen Anlässe für das Individuum gering sein: In der Messe am Sonntag zu fehlen bedurfte eines guten Grundes.
Die immer wieder beschworenen These vom Antiritualismus der Moderne verkennt, dass Rituale nicht eine Angelegenheit von unveränderbarer Tradition sind, sondern formalisiert durch Konvention, Stereotypie, Stilisierung und eine mehr oder weniger fixierte Abfolge der Elemente in Zeit und Raum, Ausdruck innerer emotionaler Ressourcen, die eng mit Identität verbunden sind, darstellen. Mit den Veränderungen zwischen Ritual und Kontext verändern sich auch Strukturen, Symbole und Interpretationen ritueller Aktivitäten. Nicht nur Sprache, sondern auch symbolische Handlungen des Rituals schaffen eine neue Wirklichkeit und erzeugt Identität. Neue Formen der Ritualisierung, die durch Informations- und Kommunikationstechnologien arrangiert werden, sind notwendig um die ehemals zeitliche definierten gesellschaftlichen Momente wieder zu kontrollieren. Rituale sind vorhersehbar und versprechen daher eine stärkere Kontrolle über die Zeit, Raum und Teilnehmer und senken Synchronisationskosten. Smartphones sind deshalb erfolgreich, weil sie vor allem für elementarste soziale Bedürfnisse benutzt werden und uns bei der Synchronisation mit Anderen beste Dienste leisten.
Flexible Zeiten vs. individueller Synchronisationsaufwand
Die Flexibilisierung der Arbeitszeiten führte zu Schwierigkeiten, traditionelle Rituale gemeinsam einzuhalten. Die Erfindung von Zeitmessung, noch weit vor der Uhr wie wir sie heute kennen, führte zum ersten Mal zu einem Gefühl der Linearität der Zeit. Durch sie veränderte sich die Arbeitswelt enorm, sowie die Messbarmachung von Handlung durch z. B. “Big Data”, unseren Handlung ebenfalls verändern. Der damit einhergehende Bedarf an neuer Wissensaneignung zur optimalen Entscheidungsfindung innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Milieus und deren Regeln und Gebräuche, kann die Interaktionskosten zwischen den einzelnen Gesellschaftsuchenden in die Höhe treiben.
Weder Ort noch Zeit, noch Umstand bzw. Beschäftigung, ist bei vielen von uns einfach ableitbar: Es ist für viele Menschen genauso möglich daheim zu arbeiten, wie im Café oder sonstwo. Unser Aufenthaltsort lässt nicht direkt auf unser Wirken schließen. Ähnlich verhält es sich mit der Zeit. Am wahrscheinlichsten ist es noch, dass die meisten von uns zwischen 2-6 Uhr MEZ in Europa nicht arbeiten. Dies ist nur ein Sechstel der gesamten Tageszeit. Da wir nicht wissen, wer wann Zeit und Lust hat uns Gesellschaft zu leisten, müssen wir uns mit jedem Individuum ständig neu synchronisieren.
Gesellschaftliche Ereignisse wie z.B. Fußballmeisterschaften bekommen in dieser Hinsicht eine bedeutende Rolle: Sie erlauben eine Grad an Synchronisierung die für die einzelnen Akteure, zumindest zeitlich, nicht zur Disposition steht. Die Spiele finden um eine bestimmte Uhrzeit statt; die verbleibende Synchronisationsleistung erschöpft sich in der Wahl des Ortes und der passenden Gesellschaft um den Medienereignissen zu verfolgen. Die Gleichzeitigkeit des Erlebten, synchronisiert Millionen auf der gesamten Welt. Nur religiöse Feste entwickeln eine ähnliche Kraft.
Die Beschleunigung in vielen Bereichen unseres Lebens gibt uns die Möglichkeit, unsere Lebenszeit effizienter zu planen und damit Kontrolle über unser Leben auszuüben. Je weniger verbindliche Rituale bestehen, desto höher kann unser Organisationsaufwand und der damit verbundene Wissensaneignung, Kommunikations- und Entscheidungsaufwand sein: Wo gehe ich wann – mit wem – wozu?
Synchronisation ersetzt den großen Plan
Um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, braucht es in einer zunehmend komplexeren Gesellschaft geeignete Werkzeuge um diese Komplexität auf eine praktikable Dimension zu reduzieren. Im selben Moment wo ein, wenn auch schwer feststellbare, Komplexitätszuwachs stattfindet, entsteht ein Bedarf nach technischen Möglichkeit zur Vereinfachung dieser. Dadurch, dass wir uns in hochdynamischen Netzwerke bewegen, die unvorhersehbar reagieren, ist eine Synchronisation in kürzeren Abständen nötig, um Tendenzen zu erkennen und gegebenenfalls zu beeinflussen.
Viele Dienste im Netz bieten automatisierte Synchronisation an, indem sie bsplw. Aufenthaltsorte, Aktivitäten oder Pulsschlag etc. erfassen und veröffentlichen. Wären Menschen nicht so genervt und gelangweilt von den ewig gleichen Fragen, könnten wir mit einer automatisierten Abfrage (Hallo “X”! Was machst Du jetzt? Wo bist Du?) unsere Synchronisationskosten gering halten. Aber: Möchten wir das wirklich? Wir halten diese kleinen Metronome in der Hand und dürsten nach Gleichzeitigkeit und Gegenwart.
Unsere Peer-Groups takten durch Mini-Rituale unserer Zeitgefühl, die als Anker der Synchronisation dienen. Diese Anker spielen eine individualpsychologisch und gesellschaftlich wichtige Rolle: sie setzen Verbindlichkeiten und damit eine Planbarkeit im Handeln vorraus. Diese Referenzpunkte geben vielen von uns Orientierung, in einem Meer von unüberschaubaren Möglichkeiten. Besonders dann, wenn die Genese des eigenen Lebenslaufes unvorhersehbar geworden ist. Smartphones erleichtern uns die Planung und Synchronisation und versprechen zugleich, dieselben Prozesse kontrollierbar zu machen, die sie selbst ausgelöst haben.
Mein Handy piept. Ein gelungener Schlußsatz fehlt. Ich antworte erst. Dabei hatte ich noch einen Gedanken zu….
Ein Synchronisationsversuch hat mich vom Schreiben entkoppelt. Ich setze einen Punkt.