Erkenntnisse aus Daten: Storys statt Artefakten und Welten statt Storys

Ein immer wiederkehrende Herausforderung stellt sich mir, wenn es darum geht, komplexe Zusammenhänge anders darzustellen, als mit dem geschriebenen oder gesprochenen Wort. Grafiken, Videos und interaktive Visualisierungen liegen im gedanklichen Werkzeugkasten und schreien geradezu danach verwendet zu werden. Doch oftmals stelle ich fest, dass herkömmliches Design nur Herkömmliches aussagt. Neue Zusammenhänge brauchen neue Begriffe, Zeichen und Darstellungsformen. Das Netz steckt voller handwerklich gut aufbereiteten und leicht verständlichen Infografiken, die mit der gleichen Geschwindigkeit gelesen wie vergessen werden. Die Anspruchshaltung an Informationsdesign kann in drei Ebenen unterteilt werden: die Faktenschau, das Storytelling und dem „Tor zur neuen Welt“. Diese Annäherungen an eine erkenntnisreiche Visualisierung von Wissen möchte ich kurz zusammenfassen.

Faktenschau

Infografiken und interaktive Visualisierungen bieten eine gute Möglichkeit, komplexe Informationen und Forschungsdaten in einem optisch ansprechenden Format anzeigen.  Die Stärke dieser leicht verdaulichen Häppchen ist gleichzeitig ihr größte Schwäche: in einem bestehendem Muster der Wahrnehmung und Vorannahmen werden lediglich Variablen geändert. Daten und deren Visualisierung brauchen nicht zwingend eine Story, wie oft gefordert wird. Manchmal ermöglichen sie anderen Datenauswertern und Designer die Möglichkeiten sie weiterzuverarbeiten, einzubetten oder ihre Fakten damit abzugleichen. Im Ökosystem des Netzes sind diese Fragmente sinnvoll und wichtig. Nicht zuletzt deshalb, weil sie im günstigsten Fall in der Datenallmende bereit liegen und die Emergenz im nächsten Schritt der Verwertungskette stattfinden kann. Saubere Fragmente sind wichtiger als aufmerksamkeitsheischende und an den Haaren herbeigezogene Storys. Der Anspruch an die Qualität der Daten sowie Metadaten sind besonders hoch. Eingebettet in einen nachvollziehbaren Kontext der Erhebung, Verarbeitung und Bereitstellung stellen die Daten als solche bereits eine wichtiges Fragment dar.

Storytelling

Daten sind eine Abstraktionen und damit eine vereinfachte Form einer Teilrealität. Das ist nicht wenig, aber Daten als solche haben keine Aussagekraft. Sie brauchen immer einen Kontext. Meistens wird dieser nicht weiter ausführlich beschrieben, sondern wird implizit angenommen. Dabei braucht jeder Datensatz oder Visualisierung einen solchen Kontext, um ihn im Sinne des Autors zu verstehen. Dieser Kontext sollte wieder selber in einem relevanten Kontext stehen. Dieser zweite Kontext ist meist gesellschaftlicher oder wissenschaftlicher Art. Es gibt keine sinnvolle Story mit Selbstreferenzierung. Die Story enthält ein Narrativ, welche den Sinn und Zweck der Daten bzw. der Visualisierung wiedergibt und ihn in einen höheren Kontext setzt. Die Daten müssen hier dem Anspruch von Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit (nach Habermas) entsprechen. Minimale Fehler ändern nichts an der Story. Eine Story mit Daten ist meist besser als die „nackten“ Daten.

Tor zur neuen Welt

Nicht die Daten und deren Faktizität im Sinne eines exakten Abbildes der erfassbaren Realität stehen im Vordergrund, sondern die Möglichkeit des Perspektivwechsels oder zumindest einer Perspektivkorrektur. Dies kann ad absurdum geführt werden: Daten werden frei erfunden, um die gewohnte Sichtweise zu ändern. Hier bewegt man sich stärker im künstlerischen Bereich oder der Propaganda. Storytelling mithilfe von Daten ist die Praxis von Marketing und PR. Dort spielt der Erkenntnisgewinn des Individuums eine untergeordnete Rolle. Eine Botschaft will verkündet werden und zwar so wie beabsichtigt. Iteration des Wahrgenommenen sind nicht sonderlich erwünscht. An dieser Stelle wird es besonders interessant: dient die Visualisierung einer klarer Absicht oder erweitert sie Interpretationsräume? Ich persönlich bin stärker von einem konsistent strukturierten und durchdachten Haufen von Medienfragmenten zur Annäherung an ein komplexen Phänomens interessiert als an einer vorgekauten und vorverdauten Story mit „überraschenden“ Schluss. Komplexität lässt sich selten auf eine gute Story herunterbrechen. Wenn versucht wird, alles in einer Story zu denken, verfallen wir schnell der Versuchung, Zusammenhänge in eine Linearität zu pressen, die dem Thema mit weiten Zusammenhängen nur selten gerecht wird. Schnell wird zu plausibilisieren versucht, was nicht ganz ins Narrativ passt. Widersprüche werden geglättet.

Darstellungen die die „Overview-Effekt“ auslösen sind die Königsdisziplin von Datenvisualisierungen. Der Overview-Effekt beschreibt das Phänomen welche Raumfahrer erleben, wenn sie zum ersten Mal die Erde aus dem Weltall betrachten. Diese Erfahrung verändert die Perspektive auf den Planeten Erde und der darauf lebende n Menschheit. Oft wird dabei ein Gefühl der Ehrfurcht, ein tiefes Verstehen der Verbundenheit allen Lebens auf der Erde und ein neues Empfinden der Verantwortung für unsere Umwelt beschrieben. Wenn eine Darstellung, ganz gleich in welcher Form, diese Erfahrung auch nur ansatzweise auslöst, ist sie wertvoller als eine Faktenschau und reichhaltiger als ein reines Storytelling. Sie eröffnet eine neue Welt.

Fünf Thesen zum Nachdenken

Dazu möchte ich folgende Annahmen zum kritischen Gebrauch von Daten und deren Visualisierungen aufstellen, über die sich hervorragend diskutieren und philosophieren lassen:

  1. Die Häufigkeit des Gebrauchs von Daten erhöht nicht deren Wahrheitsgehalt, sondern spiegelt vielmehr die Resonanzmuster derer wieder, die sie gebrauchen. oder Wir zeigen nur die Daten, die wir zu verstehen glauben und glauben dadurch sie zu verstehen.
  2. So, wie wir Daten gebrauchen und interpretieren, hängt stärker von unseren Überzeugungssystemen ab, als wir es annehmen wollen. oder Wir finden mehr Daten die uns bestätigen als uns relativieren.
  3. Der Drang die „falschen“ Daten für die „richtige“ Sache zu verwenden ist größer als Redlichkeit die „richtigen“ Daten für die „falschen“ Meinungen herzugeben. oder Ein wenig Datenmanipulation ist gesellschaftlich akzeptierter als der Unwille zur Teilung von Immaterialgütern.
  4. Daten und Visualisierungen sind keine Artefakte an sich, sondern das Resultat kultureller Praxis: Sie „sprechen nicht für sich“, sondern sind aus einer bestimmten Kultur entstanden und können nur im Zusammenhang von ihr interpretiert werden. oder Zahlen sprechen nicht für sich.
  5. Die besten Visualisierungen sind die, die uns nicht die Welt zeigen so wie sie „ist“, sondern so wie wir sie noch nicht kennen.

Gute Beispiele von Visualisierungen

Ich habe einige Beispiele ausgesucht, die meiner Meinung nach Daten besonders gelungener darstellen:


plumeograph
selfiecity
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The Life Cycle of Ideas

Urban story: Lisbon is on a par with Honolulu
Exploring the brain drain

Damian Paderta
Damian Paderta
Webgeograph & Digitalberater