Raber – Der Lebenssud

 Als er die Wurst mit der wulstigen Faust zerquetschte, überkam ihn ein seltsames Schaudern.

Er hatte eine üble Vorahnung dessen, was gleich passieren sollte. Einem Nagetier gleich, raspelte er die zwischen seinen starken Fingern herausgepresste Wurst mit seinen übriggebliebenen Zähnen ab. Beklemmende Bilder zeichneten sich vor seinem geistigen Auge ab. Es war nicht das erste Mal. Doch diesmal schien das Gefühl so tief in ihm verankert, dass es ihm die Brust zuschnürte. Das Wurstende, ließ er samt den Toastkrümeln aus der Tasche fallen und leckte angewidert seine vor Fett triefende Faust ab. Eifrig pickten Tauben die Essensreste auf. Er verjagte sie nicht, obwohl sie ihn mürrisch stimmten. Wie alle Lebewesen um ihn herum. Ein kurzes ‚Aug-in-Aug‘-Spiel mit der englischen Trommeltaube lenkte ihn von dem Tsunami niederträchtigen Empfindungen, der sich in ihm anbahnte, ab. Die Taube war sehr häßlich. Ihre Augen blickten dumm drein. „Hätten sie kein Gefieder, würden sie stinken wie ranzige Sardinen.“ murmelte Raber. Er schnaufte, wischte seine Hand an der Kante der Parkbanklehne ab und rückte seinen Kragen zurecht. Er musste jetzt dahin. Dahin – das war der Ort, wo die schlechten Gefühle hausten, kein geographischer festgelegter Ort, vielmehr ein Pulsar des Unwohlseins, fähig überall zu entstehen. Momentan weilte er bei Elfi, im Veilchenweg 9.

Die Untertassen schepperten

Eine Packung Pralinen aus weißer Schokolade wurde mit einem dumpfen Ton aufgerissen. Elfis Hände zitterten, als sie die schwere Sahnetorte auf den Tisch wuchtete. Sie war eine sehr fragile Person. Ihre Mundwinkel zuckten bei jeder ihrer Bewegungen und machten damit ihre durchgängige Unruhe sichtbar. Die betagte Dame verstand es diesen Wirbelsturm an Affekten zu bändigen. Nur ihre Mundwinkel verrieten sie. „Es ist da.“, rief Elfi aufgeregt. Das kleine Scheunentor quietschte etwas verstohlen, als ob jemand kein Aufsehen erregen wollte, wenn er den Garten betrat. Schwermütig stampfte Raber die grau melierte Marmortreppe hinauf. Er hasste Marmortreppen. Und diese ganz besonders. Vor der letzten Stufe angekommen, senkte er den Kopf und hielt inne. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis er auf den winzigen Klingelknopf drückte. Zwei kurze Glockenschläge und ein längeres Surren der Feng-Shui-Klingel waren zu vernehmen. Dazu rotierte in der Küche ein installierter Traumfänger an einem motorbetriebenen Etwas hektisch im Trapez. Die drei älteren Damen schrien auf. „Ah!“.

Raber tippelte unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Muss Klo. Schnell“, raunte er mit verängstigten Augen zu Elfi, die ihn mit weit ausgestreckten Armen empfing. An der Toilette angelangt, schaute Raber in den Spiegel und ärgerte sich abermals diesen feigen Trick angewandt zu haben. Natürlich würde er nie in Elfis Toilette urinieren, geschweige denn scheißen. Er atmete durch, betätigte die Spülung und setzte ein versperrtes Lächeln auf. Elfi, Margot und Ines warteten schon mit einer Schwarzwälder Kirschtorte, Gebäck und Kaffee auf ihn. Fair Trade versteht sich.

„Kaffee?“
„Ja, bitte.“
„Bitte.“
„Zucker?“
„Zucker? Nein, Danke-Ja.“
„Bitte, Zucker“
„Neeeeeee… “ grummelte es tief aus ihm heraus und er bekam ein sahniges Tortenstück, welches er jedoch vorsichtig wegschob.

Raber1

Ihm war es jetzt mehr nach seiner Wurst erklärte er. Er merkte nicht, welche Vielfalt an Köstlichkeiten Elfi vor ihm aufgebahrt hatte. Generell merkte er nicht viel. Auch nicht dass Ines schwarz trug und apathisch, mit verweinten Augen, versuchte die Fassung zu bewahren. „Was würde er jetzt wohl denken?“ fragte Margot in einem gekünstelten Tonfall. „Das weiß nur der Herr…“ erwiderte Elfi. “Der Kuchen. Gut…“ würgte Raber, vorausahnend, dass er ihnen dieses falsche Kompliment nicht glaubhaft machen konnte. Raber hatte den Geschmackssinn für Süßes verloren. Seine Zunge diente ihm meist nur noch als labbrige Fleischbrücke zwischen Lippen und Gaumen. Zu gerne würde er den Damen mit seinen Geschichten, die er als schmutziger Hafenarbeiter erlebt hatte, imponieren. Aber er wusste, dass Elfis Mundwinkeln besonders an den Stellen, wo er auf öligen Schiffstanks von Fischereibooten, seinen unrhythmischen Lendenschwung zum Besten gab, besonders zitterten und irgendwann zum Krakeelen weit aufrissen. Das wollte er nicht. Er mochte keine lauten Stimmen.

„Diese Leute, die da eingezogen sind- also ich weiß nicht…“
„Direkt am Ortseingang auch noch – was sollen die Leute denken?“ empörte sich Margot, abermals mit stark gekünstelter Stimme.
„Muss los.“ grummelte Raber und stand auf.

Das Verrücken des Biedermeier-Stuhls auf dem Parkett ließ ein Geräusch erklingen, dass aus dem Bauch gelassener Luft ähnelte. Tatsächlich roch es plötzlich unangenehm. Raber stank. Er roch nach alter Wurst und süßem Honig. Die Damen rümpften sichtlich angewidert ihre glänzenden Nivea-Nasen und drehten sich unauffällig weg, als Raber sich mit einem steifen Winken verabschiedete. „Komme morgen wieder. Tschööö…“, brummte Raber und lief gegen einen Vorhang. Er hatte sich an der Tür geirrt.
„Da raus. Jetzt. Tschüss. Bis morgen. Herr Raber!“, fiepte Elfi in einem oszillierendem Ton.

Raber spielte nur ungern Rommé

Auch die anderen Spiele, wie Mühle und Dame, mochte er nicht besonders. Apathisch schob seiner Gegenspielerin einen schwarzen Spielstein aufs Feld. Raber war hier gerne. Zu den Insassen sprach er allerding nur, wenn Besucher im Raum waren und dann auch nur das Nötigste. Mechanisch bewegte er die Spielklötzchen. Er verlor immer. Auch wenn es ihn immer wieder kränkte, verschwendete er seine Gedanken lieber an andere Dinge. „Darfst net“, keuchte Maria. „Alte Hexe…“, entgegnete ihr Raber, der einen unerlaubten Spielzug andeutete. Er nannte sie so. Sie war ohnehin fast taub. Jeden Dienstagabend spielten sie Rommé im Seniorenheim. Raber mochte sie nicht und sie Raber nicht. Manchmal verzogen beide angeekelt ihre Gesichter wenn sie sich begrüßten. War Raber in diesem Moment unaufmerksam, küsste die Greisin ihn trocken auf den Mund und ohrfeigte ihn danach heftig. Raber erinnerte sie an ihren verstorbenen Gatten und da dieser verschieden war, trat Raber an seine Stelle. Raber ertrug es, da er, was keiner zu diesem Zeitpunkt wusste, am schauderhaften Ableben von Marias Ehegatten gewissermaßen beteiligt war.

„Darfst net!“, ätzte die Witwe.
„Bitte?“
„Darfst net!“, wiederholte die Witwe.

Raber versteckte einen Spielstein in Marias Torte, wohl wissend, dass die von ihrer Gesundheit besessene Frau regelmäßig und pedantisch mit einem kleinen Stöckchen ihren Stuhl kontrollierte und Alarm schlug, wenn sie in diesem derartigen Objekte fand. Wochenlang drangsalierte sie daraufhin die Pfleger in der Küche und kontrollierte die Zubereitung der Speisen. Das erste anthroposophische Bio-Seniorenheim Deutschlands hatte einen Ruf zu verlieren: „Ein Lebensabend nach Demeter-Tradition.“

„Au net…darfste au net…“, maßregelte Maria Raber erneut. Er vergaß ständig Spielregeln – überhaupt Regeln. Raber flitschte eine Globuli vom Tisch und starrte das schwarz-weiße Porträt von Peter Steiner an. Ihm wurde langweilig. Raber fing an über einen Totschläger zu fabulieren, der unerkannt seinen Lebensabend im Heim verbrächte und noch immer Ausschau nach Opfern hielt. Maria war über solche Geschichten zutiefst beunruhigt und ließ ihren Herzschrittmacher am Tag darauf justieren. Nun war es Zeit zu gehen und die alte Schachtel sich selbst zu überlassen, dachte sich Raber. Ein fetter, langhaariger Pfleger mit Crocs trat behäbig durch die Tür.

„Hast verloren. Du Versager…”, flüsterte Maria in einem fast zärtlichen Ton, doch da war Raber schon aufgestanden und knabberte an seiner Wurst, die er einem Schießprügel gleich, aus der Seitentasche seines Mantels zog. „Nächsten Dienstag“, zwinkerte Raber. „Dienstag bist Du dran, Du Sack!“, erwiderte sie und versuchte ihn wieder zu küssen und zu ohrfeigen. Raber wich aus und schnappte sich willkürlich einen Rolli samt Insassen. Der Fahrgast protestierte, war er schließlich noch am Essen. Raber beschwichtigte ihn schnell, in dem er von der mannstollen Witwe sprach, die in einer Art Rollenspiel überfallen und befriedigt werden wollte. Helmut lauschte bedächtig. Raber hatte für diese vom Leben aufs Abstellgleis geschobenen Menschen immer ein paar Geschichten auf Lager, von deren schändlichen Auswirkungen er jedoch nur selten Notiz nahm.

Raber taumelte in den Bioladen

„Oh entschuldigen…“
„Oh nein, ich war schuld.“
„Nein, nein.“
Beim Anblick Rabers ließ Henrietta die Tüte voller Biobrötchen fallen und verfiel in eine Art übertriebener Freundlichkeit, die Raber mit einer noch gönnerhafteren Geste der Höflichkeit übertraf. Er bestellte gleich darauf eine Vanille-Biomilch-Schnitte, der Henrietta so verfallen war und Henrietta beantwortete dieses spontane Präsent mit einer Sojawurst und einer Packung glutenfreien Bio-Vollkorntoast. Daraufhin griff Raber zum Dekoblumenstrauß und machte der verdutzten Feinkostladenbesitzerin mit einem Fünfhunderteuroschein klar, dass er keine Kosten scheut, um dieser reifen Dame gehörig zu schmeicheln. Diesen Schein pflegte er seit Jahren in der Tasche zu haben – für Situationen wie diese. Sowohl den Äußeren als auch die Banknote. Zahlen musste er damit jedoch nie.

In der allgemeinen Verwunderung und Fällen von Schnappatmung, verstand er es, mit einem staatsmännischen Abgang zu verschwinden, ohne jedoch die Rechnung zu begleichen. Doch er war vorsichtig was diese Inszenierung von scheinbarer Gönnerhaftigkeit anging. Sein Lebenssud kreierte in diesen Fällen ein Gemisch, die ihn gewaltig aufkochen ließ. Dieses Elixier, welches tief im Inneren seines vom Leben gemarterten Körpers brodelte, konnte sowohl eine vitalisierende, als auch ein toxische Wirkung entfalten. Raber würde niemals vergessen, als er den Rollstuhl des ehemaligen SS-Sturmführers Dammstedt aus dem Gleisbett der Tram hob und dem braunen Greis damit sein Leben rettete.

Als er kurz darauf einem Obdachlosen in einer theatralischen Geste inmitten einer Traube Menschen den 500-Euro Schein anbot, dauerte es nur wenige Minuten bis der giftige Lebenssud ihm solch starke Schmerzen bescherte, dass ihm weitere, derart vorgespielte altruistische Taten, nicht möglich waren. Raber stolzierte mit der geschenkten Wurst und Toast aus dem Laden und hinterließ verdutzte und gleichzeitig tief ehrfurchtsvolle Blicke. Henrietta errötete. Er verschwand mit einer letzten tiefen Verbeugung. Sein olfaktorischer Abdruck geisterte noch längere Zeit im Raum. Es roch nach Babypuder und Menschenscheiße und etwas Anderem widerlichem…

Raber verkaufte was „durch die Leitung“

…wie er immer zu sagen pflegte: Onlinehandel. Raber ist eher ein untypisches Kind der Dotcom-Generation. Aber er versuchte damit seine kümmerliche Rente aufzubessern. 1997 versuchte er, in der noch in den Kinderschuhen steckenden Internet-Erotikbranche Fuß zu fassen. Er zeichnete asymmetrische weibliche Brüste und verschickte diese verschwommenen kümmerlichen Skizzen per E-Mail an potenzielle Kunden. Wollten diese die scharfgezeichnete Version, mußten sie zahlen. Verwundert stellte Raber damals fest, dass dieses Geschäft wenig Hoffnung auf Erfolg hatte. Raber war von dem Geschäftsmodell und seinen Werken überzeugt, aber so sei das nun mal, sagte er sich. Manche Menschen seien ihrer Zeit einfach voraus.

Hobelspäne fielen auf seinen Schoß. Er entschied sich Särge zu verkaufen. Bausätze für Särge. Einfach und günstig. „Das hat Zukunft!“ Da war sich Raber sicher, weil sich heutzutage viele Menschen keinen Sarg mehr leisten könnten. Rabers Särge bzw. Sargbauteile waren sehr schlicht. Obwohl er diese hässlichen Kisten hasste, ließ er sie mit einem Symbol versehen, dass in braungrauen Harz eingelassen war. Das Symbol war ein trauriger Smily. Jedes Mal, wenn er das tat, knabberte er genüsslich an seiner Fleischwurst. Seine Zunge fuhr dabei um seine feuchten Lippen, als würde sie einem Borstenpinsel gleich, feine Linien zeichnen. Er gab sich große Mühe, den Kopf nicht einfach als Kreis darzustellen, sondern versuchte immer gewieftere Formen. Oval, halbrund mit kleinen Ecken. Eine Schande sei es, dass die Leute mehr mit den Verstorbenen litten, als mit seiner Kunst. „Aber heutzutage sei das nun mal so…“, konstatierte Raber abermals.

Die Mittagshitze machte Raber zu schaffen. Er band sein braun-kariertes Herrentaschentuch im Safarilook auf den Kopf und zog seine Stiefel aus. Es schien, als wären die bordeaux-farbenen Socken mit seinen verhornten, profillosen Füßen verwachsen. Die ockerfarbenen Zehennägel kratzten über den Asphalt, als er mit zugekniffenen Augen den vermeintlichen Supermarkt erreichte.

Als Raber wieder zu sich kam, befand er sich in einem schwarzen Plastiksarkophag. Sein Schädel brummte und der Magen war übersäuert. Er stieß auf und bemerkte, dass er sich nicht bewegen konnte. Er war an Armen und Füßen festgekettet. Raber keuchte. Seine Augen schnellten von links nach rechts und wieder zurück. Er war nackt – sein Gesäß freigelegt. Eine maskuline Kellnerin hielt einen Fisch in beiden Händen, der widerspenstig hin und her zappelte. Nun wurde auch Raber der Zusammenhang klar. Doch bevor er losschreien konnte wachte er auf.

Vogelkot sprenkelte seinen anthrazitfarbenen Filzmantel mit weißgrünen Schlieren

In kaltem Schweiß gebadet rollte der alte Mann auf die linke Körperseite. „Diese Scheißviecher…“ Raber rollte ungeschickt zurück, immer noch benommen von dem Albtraum. Er musste eine Weile dort gelegen haben, stellte er fest. Er kämmte sein lichtes Haar mit seinen schmutzigen Fingern, spuckte ein kleines Blatt aus, schlug mit der flachen Hand einen leeren Kaffeebecher zur Seite und murmelte: „Diese Schweine haben einen Kaffee getrunken, während ich mir in den Frack geschissen habe.“ Raber lag den ganzen Tag vor dem Bio-Supermarkt. Die Passanten quittierten sein Delirium mit:
„Desch ne Form von Protescht gegen de Strompreise.“
„Der Filzmantel isch ausm Zara… Desch a Schweatshop übelster Sordde.“
„Da läuft ´ne Ameisenstraß‘ über dem… Die könne ma nit einfach so wegmache. Desch pure Natur.“

In seiner Wut raspelte Raber am anderen Ende der Ringelwurst, die er aus seiner Manteltasche kramte. Er konnte nicht lange wütend sein. Das war sein Fehler. Unbeholfen stand er auf und wie er da so stand, stand es nicht gut um ihn und seinen Ruf. Er erinnerte sich an den Albtraum. Der Kopf einer Taube, die an ihm vorbeistolzierte, erinnerte ihn an den penetrierenden Fischkopf, der ihm in seinem Traum erschienen war. Raber verdrängte den Gedanken. Er sah aus wie ein gerupftes Huhn. So konnte er nicht durch die Stadt. Das könnte seinem lädierten Ansehen noch mehr schaden. Er entschied sich für den beschwerlicheren Weg durch die Villensiedlung, wo Hecken und Sträucher seinen geschundenen Körper weitestgehend verbargen. Jedoch war der Weg schwieriger als Raber zunächst vermutet hatte. Die Hecken rissen Rabers Hose aus groben Cord auf. „Ungünstig…“, murmelte Raber, als er den herabhängenden Stofffetzen ansah, der einen großen Teil seiner Lenden freilegte. „Scheiße…“ brummelte er.

Was musste ein Mann in seinem Alter noch alles ertragen? Wie ist er wieder in diese Situation hineingerutscht? Als er so gebeutelt und gebückt im Garten des örtlichen Bürgermeisters die Situation reflektierte, entsprang seinem Brummschädel plötzlich der Gedanke diesen Philanthropen beim Wort zu nehmen und ihn um Hilfe zu bitten. Natürlich war das nur ein Umweg, um sich in sein Haus zu schleichen und sich übergangsweise neue Beinkleider zu borgen. Schließlich stand sein Ruf auf dem Spiel. Das würde dieser redliche Bürger der Stadt schon verstehen“, dachte Raber. Die Terrassentür stand offen. „Idiot…“ ächzte Raber und öffnete mit einer selbstverständlichen Geste die Glastür.

Mit kaltem Blut fuchste er die Treppen hoch. In einem Zimmer angelangt öffnete er den schwedischen Kleiderschrank. Draußen parkte ein silberner Geländewagen. Direkt dahinter der Bürgermeister im Solarauto. „Kacke!“, fluchte Raber und entwendete geierartig eine bananengelbe Stoffhose. Er schnellte die Treppen hinunter. In der Küche rutschte er auf einem achtlos abgelegten iPad aus und riss beim Fall eine Vivaldi-Espressomaschine auf den Carrara-Marmor, sodass diese zerbrach. Raber stand unbeeindruckt auf und zwängte sich in die viel zu enge gelbe Frauenhose von Chloé. Das Körperteil, was ihn von einer Frau unterschied, bömmelte ungeniert heraus. Einem verängstigten Kaninchen gleich, schossen Rabers Augen von links nach rechts. In einem Anfall von Panik entdeckt zu werden, schob er seinen prallen Leib zwischen die Terrassentür, um durch den Garten zu flüchten. Die Haustür ging auf. Raber steckte noch im Spalt.

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Wie konnte das passieren?

Jan regte sich künstlich auf, war aber dennoch aufrichtig besorgt. „Babba, des kommt von den ganze Prione in deine Wurscht“, sagte Hannah. Er hasste es wenn sie ihn Babba nannten. Sie waren nicht etwa seine Kinder, sondern Mitbewohner des Mehr-Generationen-Hauses in dem er lebte. „Meine Kinder wären nicht so beschissen!“, dachte er  als er seinen Kopf in seinen Händen abstützte. Doch leider war das Verschleudern seines Samens nie mit einer fleischlichen Ernte gesegnet worden. Obwohl er sich sichtlich Mühe gab und nie verhütete. „Desch fällt alles auf die Kommune zurück. Heut‘ inna Kita hat die Paula schon net mitfahre wolle.“ Raber hasste diesen Dialekt. Und er hasste dieses Städtchen ganz besonders. Nur äußerte sich sein Hass nicht in Form von Gewalt. Es erschaffte eher eine Art Gebräu, welches sich in seinem Geiste sammelte. Es war der Lebenssaft, der in ihm schmorte und seine Seele zu einem bitteren Sud fermentieren ließ, der sich in Abneigung gegenüber diesen menschlichen Kreaturen manifestierte. Ein unheimliches Kraftwerk, aus dem er Kraft schöpfte, ja, seine unrühmliche Existenz überhaupt erst möglich machte. Er war Braumeister, Connaisseur und Verkoster dieses außergewöhnlichen Suds. Aber das konnten Hannah und Jan nicht verstehen. Nicht weil sie zu dumm waren. Jan war ein begehrter Ingenieur in der Solarbranche und Hannah Direktorin des örtlichen Waldorfgymnasiums. Sie waren vollkommen sudlos.

Er musste eine Weile gedöst haben, denn es war Viertel vor Zehn und Hannah sprach von dem Eiweiß-Brot und dass die Körner nur zu einem bestimmten Teil Bio seien. Sie erwähnte die Espresso-Maschine, die sie kaufen wollte, die aber in der letzten Stiftung Warentest nur mit „gut“ abgeschnitten hatte. Davon abgesehen, wisse sie jetzt sowieso nicht mehr wohin damit. Raber langweilte sich. Er öffnete einen spaltbreit seine Finger, die er unter Vortäuschung einer Betroffenheits-Geste auf sein Gesicht gelegt hatte.

Raber wartete auf den Moment, in dem er das Thema Bürgerbeteiligung am geplanten Windpark auf der Wiese von Schölz ansprechen konnte. Kaum entwichen diese Worte seinem Mund, fauchte Hannah Jan an und schrie dass Windanlagen toll seien und überhaupt. Allerdings sollten diese im Norden bleiben weil da Wind und mehr Meer ist und so. Hier bekommen die Kinder Angst vor dem Schattenwurf und überhaupt Solar und Klima, da müsse man ja auch an morgen denken. Da sollen sich andere drum kümmern und überhaupt wie Jan die Vanessa beim letzten Mal angeguckt hat…. Nachdem Jan eine halbe Stunde lang für sämtliche Missstände dieser Welt verantwortlich gemacht wurde und einem reuigen Schulkind gleich den Kopf senkte, um die Schuld dieser Welt auf sich zu nehmen, eskalierte die Situation: „Jetzt hörst Du mir nicht einmal mehr zu!“ Hannah fetzte ihm einen ihrer selbstgetöpferten Tonkrüge ins Gesicht. Da verabschiedete sich Raber. Staatsmännisch und geheuchelt mitleidig wie immer, wohl wissend, dass er die causa principalis dieses Streites war.

Er schämte sich für den lausbübischen Gedanken

Dafür war er zu alt. Aber die sozialen Sanktionen, die ihn in den nächsten Wochen erwarten würden, setzte er einen Fuß in die Stadt, waren ihm zu aufreibend. Die kleine Paula spielte mit Jacko, einen Schäferhund-Mischling aus dem nahegelegenen Tierheim. Paula war für ihr Alter geistig gut entwickelt und wie alle Kinder aus der Stadt ein verkanntes Genie. Ein hochbegabtes Kind wie es immer öfter hieß. Die Elitenförderung war ihr laut Hanna gewiss von großem Nutzen, um Paulas komplettes Potenzial zu entlocken. Paula fing an Jacko mit der Kordel zu würgen. Nicht, dass Raber der Hund leid täte, er mochte keine Tiere und Kinder schon gar nicht, aber der Umstand dieser unfairen Attacke berührte  jedoch sein starkes Gerechtigkeitsempfinden.

Mit einer Selbstverständlichkeit und der Rückbesinnung auf vergangene, pädagogische Methoden, band er eine Schnur um das Halsband des Hundes und in scheinbar guter Absicht an den Fuß des kleinen Kindes. Paula schien entzückt. „Jetzt, weiß sie wie es sich anfühlt. Diese dünne Schnur.“ dachte Raber selbstgerecht. Eine Weile lang überlegte Raber, ob aus ihm nicht doch ein guter Kindergärtner geworden wäre. Diesen Gedanken verwarf er sofort: erstens weil er Kindergärten hasste und zweitens, weil er zusah wie das zusammengebundene Paar in panischer Verzweiflung auf die Straße lief und Elfi im weißen Porsche Cayenne entgegenraste.

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„Die Hauptsache ist doch, dass keiner verletzt wurde!“ gab der alte Mann im gerupften Filzmantel in seinem staatsmännischsten aller gekünstelten Tonfälle zum Besten. „Was hätte bloß passieren können?“, fügte Hannah hinzu. „Es ist nur ein Sachschaden. Ne, Elfi? Is´ja noch alles beisamme.“ In einem Stelldichein voller herauf-beschworenem Glück im Unglück, das alle Beteiligten von sich gaben, platzte Jan hinein. Er versuchte vergeblich den Knoten der Schnur an Paulas Fuß zu lösen: „Deschn Seemansknote! Wie kommtn der da rein?“ schrie er. Seine Vergangenheit als Hafenarbeiter und als lüsterner Seemann war weithin bekannt, obwohl er nur selten Auskünfte über sein früheres Leben, jenes vor seiner Niederlassungen in Kitzingen,gab. „Desch hat die Kleine nimmer selbst g’macht“, fügte Jan verdutzt hinzu. Es musste nicht ausgesprochen werden. Alle sahen Raber an. Dabei hat er es doch gut gemeint. Mit entschlossenem Schritt stolzierte Raber, der um die Sprengkraft seiner Lage wusste, zum Porsche Cayenne: „Ist vielleicht nur ein Kratzer Elfi. Der muss nur umgedreht werden…“ Raber versuchte vergeblich den auf dem Dach liegenden Geländewagen um 180 Grad zu drehen. Elfi verfiel in einen Schreikrampf. Henrietta stützte sie.

Wie sie da nun alle standen…

Die Frau vom Bürgermeister in ihrer gelben Hose, der verängstigte Hund und die traumatisierte Paula, die schockierte Elfi, die verschreckte Witwe Maria, Helmut haarlos, Jan und Hannah, Henrietta und Abel mit dem keiner was zu tun haben wollte, so standen sie da und schauten Raber vorwurfsvoll an. Dazu gesellten sich ein paar Gestalten die Raber zwar irgendwie kannte, deren Leidensgeschichte er jedoch nicht zu rekapitulieren vermochte. Raber verstand ihre Blicke nicht, sondern trat ungelenk nach einer Taube, die sich seiner Manteltasche voll Toastkrümel näherte.

Raber stopfte eine Handvoll dieser Krümel in den Mund und schob ein so großes Stück Fleischwurst hinterher, das sie querliegend in seinen Backen verkantete. Eigentlich wollte er eine Ansprache an die ihm so verhassten Menschen richten, aber es war ihm nicht möglich. Die Wurst war zu groß. Nach einigen Minuten der Stille, die nur durch Rabers geschasstem Schmatzen und Schlucken unterbrochen wurde, nuschelte Raber kleinlaut: „Im Keller ist noch Speck und Schmalz…“. Raber öffnete die Tür des Wagens und demontierte den großen Traumfänger aus der Frontscheibe, drehte sich mehrmals um seine eigene Achse und murmelte eine unverständliche, indianerartige Sprache. „Meee-Hamee-Ham…“ Elfi beruhigte sich. Dann trat Raber ab und zog, beinahe theatralisch, sein linkes Bein nach, als würden ihn die heraufbeschworenen Dämonen daran hindern, diesen Ort zu verlassen.

Und wie er so da war – da war er eine Weile. Und in ihm fermentierte der Lebenssud. Raber taumelte zwei, drei Schritte zur Seite und übergab sich auf die kleine Paula. Der zweite Strahl erreichte Elfis weiße Sporthose aus biologisch hergestellter Baumwolle, schwenkte auf Helmuts blaugrünem Flanellhemd um und erreichte die verdutzt dreinblickende Henrietta, welche mit der größten Ladung von Rabers Seelenferment beschenkt wurde. Jans randlose Designerbrille bekam ein paar kaum nennenswerte, gelbe Spritzer ab. Raber wankte und fiel schließlich wie ein Sack Kartoffeln zu Boden. Drehbuchreif löste sich ein Platzregen über der Menge. Im Augenwinkel seiner halb zugekniffenen Augen erkannt Raber die Konturen eines Trosses phlegmatisch heimkehrender Menschen mit eingefallenen Schultern. Raber war wie erstarrt.

Er schämte sich

Er schämte sich so stark, dass ihn die Schamesröte seiner gepolsterten Wangen ihn in dieser einbrechenden Kälte zu wärmen schienen. Wie konnte es dazu kommen, dass er diesen, ihm so verhassten Menschen, das Geheimnis seines Seelensuds preisgab? Ein Rinnsal aus Schlamm und Blättern erreichte seinen Filzmantel und färbte ihn dunkel. Raber rollte sich auf seinen Bauch, um sich vom Himmel abzukehren, der ihn wie ein großes Auge verächtlich zu beobachten schien. Seine Wangen glühten. Sein steifer Körper zuckte an allen Gliedern. Seine Muskeln entspannten sich und entließen aus den Körperöffnungen, was in ihm gar. Der befreite Stuhl erwärmte seinen Gesäß, seine Oberschenkel und floss, einem Lavastrom gleich, auf seinen Bauch. Raber überkam ein Gefühl der tiefsten Zufriedenheit, wie nur wenige Menschen in der Lage sind sie zu spüren. Der Regen ließ nach. Raber rührte sich stundenlang nicht.

Am späten Abend überkam ihn ein leichtes Hungergefühl. Bäuchlings, mit einem ausgestreckten Arm, rollte er geschickt ein Stück zerquetschter Wurst in seinen gierigen Mund, der nun mehr einem beharrten Schnabel glich. Er fühlte Blicke. Er war nicht mehr alleine. Am Fenster konnte er eine Person ausmachen, die eilig aus seinem Blickfeld hastete. Ein schwaches Beben und Rollen war zu vernehmen. Raber rollte geistesgegenwärtig zur Seite. Ein Anhänger raste an Raber vorbei und krachte in den Pfosten des Carports. Ein vorsichtiges Quietschen einer Tür. Dann – Stille. Sichtlich erschrocken und trotzdem voller stiller Bewunderung für diesen hinterhältigen Versuch ihn, den ehrenwerten Raber über den Jordan schicken zu wollen, spürte er, wie es aufhörte in ihm zu brodeln.

Es tat ihm gut. Es tat ihm gut zu wissen, dass er beiseitigt werden sollte. Voller Elan stand er auf. Als er sich den Dreck vom Mantel wischen wollte, erkannte er beim Anblick seiner von oben bis unten vollgeschissenen Existenz, die Zwecklosigkeit dieses Vorhabens. Eher als ein Zeichen des Aufbruches, wischte er ein Stück schwarzer Hundescheiße von seinen wulstigen Lippen, die voller Tatendrang magentafarben pulsierten. Das Lebensferment war gereift. Nun musste er beten.

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Es roch unangenehm in der Klosterkirche Marienthal

Der angolesische Pierre Mbeki, ein klerikaler Gastarbeiter, verstand es, seine spirituellen Verirrungen in der Gemeinde zu leidenschaftlich zu zelebrieren. Er versah die örtlichen Musikgruppen und ansässigen Sportvereine mit der Infrastruktur Gottes und vernetzte so alle Aktivitäten der kleinen Gemeinde: Sonntags stand er auf dem Platz und segnete vor jedem Spiel den Schotterplatz des Fußballvereins TUS Kitzingen. Das wussten die Fußballbegeisterten zu schätzen, auch wenn das nichts an dem bevorstehenden Abstieg in die Kreisliga D ändern würde. Weniger zu schätzen, wußten die Spieler Rabers Besuche in der Kabine. Er saß stumm da und verteilte willkürlich Klapse auf die beharrten Hinterteile der aus der Dusche kommenden Spieler.

Er verstand nichts von Fußball, er hasste  jegliche Form der körperlichen Ertüchtigung. Damals als Öltankreiniger, hatte er sich einem Rugbyteam in Neuseeland angeschlossen. Aber nur weil er den Bestrafungen entfliehen wollte, die jedem, der dieses Spiel nicht mitspielte, bevorstand. Als ihm bei einem Rugbyspiel gegen eine australische Mannschaft der Lebenssud überkam, wurde er fortan nie wieder zum Spielen angefragt und fand seine Ruhe. Sein wulstiger Körper war für diesen Sport nicht geschaffen. Besonders bei Niederlagen des TUS Kitzingen, erregte seine Anwesenheit und seine Art die Spieler derart unflätig zu berühren, größten Ärger. Doch bevor die Situation eskalierte, schlich er sich mit der Wurst im Holster davon. Der Sud war gegoren.

Raber, ein großer Kenner der katholischen Liturgie, sang am lautesten und übertönte zur Freude Mbekis, den Chor der anwesenden Mitglieder der kleinen Kirchengemeinde. Seinen gregorianischen Gesang verglich Margot mit dem in einer Fallgrube in Panik geratenen Keiler. Manchmal nannten sie ihn auch nur den „miefenden Keiler“. Einen alten Laptop auf dem Schoß, laß Raber die Bibelstellen, die Mbeki in gebrochenem Deutsch ankündigte. Das laute Surren des Rechners und allerhand Systemklänge brachten etwas fortschrittlichen Geist in die betagte Runde der eingefundenen Gläubigen. Mit Ächzen und inneren Qualen verfolgten die Frommen die unverständlichen Ansprachen vom wild gestikulierenden Mbeki. Doch keiner traute sich ihn zu kritisieren, waren sie doch froh Ersatz für den mit 97 Jahren verstorbenen Jesuiten Alfred Schlenz gefunden zu haben. Und Mbeki war froh, seine theologischen Fehlschlüsse unter die immer kleiner und älter werdende Schar seiner Schäfchen zu bringen. Im Allgemeinen mochten sie ihn: „Der isch zwa schwatz, hat abba ne weiße Seel`“, pflegte Margott immer zu sagen, ohne das Hadern, die dieser Satz bei der Hörerschaft auslöste, zu verstehen.

Raber saß vorne rechts im Kirchengestühl. Auf dem Platz, der eigentlich Elfi vorbehalten war. Raber haute ungeschickt auf die Tastatur des Laptops und fluchte leise, wenn der alte Rechner nicht so wollte, wie er. Sein E-Libretto hakte. Wurde der Gottesdienst besonders unverständlich vorgetragen, kam es gelegentlich vor, dass Raber trotz seines Eifers einschlief und seine Rechenkiste in den Bildsschirmschoner-Modus wechselte. Allerlei anstößige Bilder erschienen daraufhin auf dem Monitor. Die Gemeinde war ein jedesmal aufs Neue entsetzt. Mbeki tat was er am besten konnte: Er lächelte und rief: „Oh, praise the Lord!“ Zu sehen war neben allerhand Nacktporträts von Raber mit dem immer gleich gelangweilten Gesichtsausdruck und Blick gen schlaffes Genital, auch zahlreiche andere Fotos, auf denen die Zubereitung einer Art rotbraunen Sirups zu sehen war. Durchsetzt waren diese Bilder immer wieder von Szenen eines sich übergebenden Rabers.

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Raber stieg einmal im Monat in den Beichtstuhl und trug dem entsetzten Mbeki seine Sünden vor. Wohl aus Selbstschutz unterbrach ihn Mbeki immer wieder mit „Oh, praise the lord!“. Raber schilderte ihm peinlich genau, was sich in den Öltanker-Zeiten abgespielt hatte. Alle konnten mithören wie Raber seine devianten, sexuellen Erlebnisse mit großer Begeisterung zum Besten gab, um daraufhin tief fromm, zu bereuen. Keiner verstand es. Nur Raber. Manchmal erklärten die lauthals vorgetragenen Berichte auch im Dorf vorgefallene Ereignisse, auf die bis dahin keiner eine Antwort wußte. Ereignete sich etwas Unerklärliches oder Abartiges in der 500-Seelen Gemeinde, so wurde ein Gemeindemitglied abgestellt Rabers Beichte abzuhören. Oft war es Elfi, die mit zittertendem Mund lauschte. Raber begrüßte sie gelegentlich mit dem Spruch „Eva Braun is back in Town!“.

Raber betete. Raber betete viel und laut. Er führte eine Art Dialog, wo er stets um mehr Kundschaft bat. Er insistierte, dass alle Menschen mal sterben müssten und es seinem Sarghandel grade nicht so gut ginge und die Fleischwurst bei Aldi wieder etwas teurer geworden sei und dass man als alter Mensch sowieso zuwenig Beachtung bei Gott fände, der sich ja scheinbar lieber mit jungen Frauen beschäftigen würde. Raber erkannte die Hilflosigkeit Gottes. Raber musste sein finanzielle Geschicke selber in die Hand nehmen. Gott war offline. Mal wieder.

Aus allen Poren drangen graubraune Tröpfchen und kondensierten auf seiner ledernen Haut

Er fieberte und übergab sich mehrmals. Der Boden des Steintrogs füllte sich zusehends mit seiner stinkenden Melasse. Immer wieder schüttelte es ihn und er schiss kleine Klümpchen, die er geübt mit einem Überrollen des flüssigen Ausflusses vermengte. Raber röchelte und fühlte sich elend. Er schämte sich für diesen Zustand. Doch war er von der Notwendigkeit dieser Prozedur so überzeugt, wie er nur selten von etwas überzeugt sein konnte. Kein normaler Schlachter würde zugeben, dass der Akt des Tötens besondere Lust beschere oder seine Sinne im positiven Maße anregen würde. Es gehörte nun einmal dazu. „Das gehört nun einmal dazu.“, versprachlichte Raber seinen Gedanken, um sich von seinen Schmerzen abzulenken und neue Kraft zu sammeln. Er stand auf und wischte mit großer Hingabe seinen Körper ab und achtete darauf dass jedes Tröpfchen den Weg in den Trog fand.

Mit letzter Kraft hüpfte er hinaus und trocknete seinen Körper ab. Der Boden des Troges war kaum ein Fingerbreit gefüllt. Die folgenden Stunden verbrachte Raber damit, den Sud vorsichtig in einen Erlenmeyerkolben zu pipettieren. Der Geruch faszinierte ihn immer wieder aufs Neue, obwohl er dieser Prozedur eher pragmatisch-leidenschaftslos gegenüber eingestellt war. Es war der Geruch von Wundpflaster: Klinisch, medizinisch – unfassbar dass dies von den Exkrementen eines Lebewesens stammen konnte. Zuletzt verdünnte Raber den Sud mit einer Gießkanne voll Leitungswasser. Es ließ ihn mehrmals erschaudern, als sich sein dunkls, rotbraunes, sirupartiges Elixier in gewöhnlichem Wasser löste, bis es nur noch in einem trüben, gelblichen Schleier der bedächtig durch die opaque Flüssigkeit zu schweben schien, zu erahnen war.

Raber schien aufgeregt

Es war schon spät. Er hatte seinen vollgeschissenen Mantel in der Boutique getauscht und wurde durch eine angedeutete Herzattacke vom besorgten Geschäftsführer im Coupé zurück ins Mehrgenerationenhaus gebracht. Die Vorbereitungen zum Fest ließen in ihrer zwanglosen Hektik auf eine große Vorfreude seitens der Anwesenden schließen. Raber war zu früh. Man hatte ihn in der allgemeinen Aufregung nicht bemerkt. Raber wich seitlich in ein Zimmer aus, um unter dem Bett noch etwas Schlaf nachzuholen. Bei Vorbereitungen seine helfende Hand zu reichen, entsprach seinem Charakter nicht. Die letzten Tage waren sehr kräftezehrend für ihn gewesen.

Auch er war etwas aufgeregt. Sein Bauch grummelte. „Scheisse…“, fluchte Raber, der instinktiv nach seiner Wurst und Toastkrümeln griff, um sich zu beruhigen. Der miefende Filzmantel hing noch in der Umkleide, als Raber den Brioni-Smoking entwendete, um kurz darauf einen Herzkasper vorzutäuschen. Plötzlich regte sich das Bett über ihm. Raber sperrte die Augen weit auf. Er hatte vorher niemanden im Bett gesehen. Zwei zarte Füße touchierten voller Grazie den weißen Flokati. Ein Seufzen war zu hören. Raber ergötzte sich an diesem Anblick. Er hatte in seinem Leben keine Schöneren gesehen. Das heitere Spiel der blassroten Zehen, die sich dort streckten und krümmten, verstrahlten eine Poesie – als wollten sie ihm Hölderlins „Hymne an die Schönheit“ vortragen: „Sanft berührt vom Lockenhaar, von der Lippe, süß und bange, bebend…in dem Liebesdrange…vom geschlossenen Augenpaar…“, flüsterte Raber und schlief friedlich ein.

Raber6

Ein dumpfes Poltern. Raber wachte auf. Wieder der Fisch-Traum. Sollte er sich Sorgen machen? Von unten drang Musik ins Zimmer. „Wo sind all die Indianer hin“ von PUR löst Herbert Grönemeyers „Mensch“ ab. Raber hasste Popmusik. Er summte Brahms Fuge in a-moll und sprang unter dem Bett hervor. Er war nicht zum Spaß hier.
Die Stimmung war gelöst und affektiert unlustig. Raber stand mit dem Rücken zur Wand. Niemand bemerkte ihn, als er sich wie eine kleine Made zur Bowle wandt und den kostbaren Sud hineingoß. Er verzerrte sein Gesicht, als würde ihn der Verlust des Suds schmerzen. Einnem im Sturzflug begriffenen Drachen gleich, vermischte sich der Sud mit der Sektbowle voller Bio-Orangen. „Ja gib ma her desch Zeug…Raber.hähähhä…“, keifte Elfi und tauchte ihr Glas in die Bowle. Raber nickt höflich und bot jedem der Gäste ein Kristallglas seiner Köstlichkeit an.

Raber wirkte ungewohnt adrett in seinem Smoking. Ein kleine Schlange vor dem Tisch mit der Bowle bildete sich. Raber nickte jedesmal, als ob er sichergehen wollte, dass die Person dieses Getränk wirkliche wünsche, griff zur silbernen Kelle und goß einer arabischen Teezeremonie gleich, den vergorenen Lebenssaft in hohem Bogen in das funkelnde Behältnis. Die Stimmung wurde ausgelassener. Und da feierten sie nun. Allesamt wie sie da saßen, standen und tanzten, tranken sie Rabers vergorenen Lebenssud. Nur nicht Mbeki. Den hatte man vergessen einzuladen. „Das nächste Mal. Der isch ja so nett und gläubig.“ Raber verfolgte stocksteif an der Wand lehnend dass ekstatische Treiben. Lediglich seine großen Augen kreisten und verfolgten die Anwesenden. Jan und Hannah waren an diesem Abend besonders gelöst und riefen zu einer Polonaise in den Garten auf. Rabers Anspannung wich. Er konnte gehen.

„Häscht du dem Kind die Computer gegebe?“ fauchte Hanna als sie sah wie die kleine Paula an Rabers alten Laptop unscharfe, hautfarbene Bilder anstarrte. “ Ja, neeee! Isch ned!“ erwiderte Jan agressiv. Raber schritt im Hintergrund davon. „Und du guck ned so du dumme Sau!“ keifte Hannah Margot an, die erschrocken auf den Monitor blickte. Ein Bild von Raber wie er nackt vor dem Klingelschild Elfis posierte. In einer Hand hielt er ein Stück Toast. Elfi schrie und ballte die Faust im Wahn und drohte Helmut und Maria. Jan drohte daraufhin Elfi. Maria drohte Margot die wiederum Hanna mit erhobenem Zeigefinger zu Maßregeln versuchte.

Der Lebenssud replizierte seine Tugendlosigkeit

Als Drohungen und Beschimpfungen nicht ausreichend Wirkung zeigten, schlugen die Gäste des Mehrgenerationenhauses im Rausch des einverleibten Lebenssud Rabers, mit brennenden Torffackeln aufeinander ein. Raber hatte diese im Garten sorgfältig platziert. Die Flammen sprangen, mit einem Knistern und Knacken, vom nächtlichen Wind getragen, auf die übrigen Holzbauten des Hauses über. Den Einsturz des Daches des Gemeinschaftsraumes registrierte Raber nicht mehr. Auch nicht die grellen Schreie, die aus dem Feuer drangen und sich in einem Kanon der Todesangst überschlugen. Rabe quetschte ein Stück Wurst in seine Mund. Hinter ihm leuchtete das Fanal seines vergorenen Lebenssuds.

Er fühlte sich leer. Er schob die Toastkrümel aus der linken Seitentasche seines Smokings in den feuchten Mund, strich sich durchs Haar und trat nach einer Meise, die sich ihm herausfordernd in den Weg stellte. Ihm schwante, dass er sehr wahrscheinlich mit dieser Tragödie auf irgendeine Art verbändelt war. Er stieß kurz auf und verwarf diesen Gedanken wieder. Denn die Wege des Lebenssuds schienen unergründlich. Er machte kehrt. Sein Absatz knarzte auf dem Holzboden. „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft“, murmelte Raber. Dieser mephistophelische Satz war die Quintessenz Rabers leiblichen Daseins. Mit dieser Bürde würde er sich bis zu seinem Tod durch sein beschissenes Leben kotzen. Raber lachte verschmitzt und biss in die ranzige Wurst. In seinem seelischen Kessel brodelte es leicht…

Damian Paderta
Damian Paderta
Webgeograph & Digitalberater