Von den sozialen Medien versprach ich mir im Jahr 2008 mehr und einen besseren, sachlicheren und demokratischeren Diskurs. Das “Mehr” ist tatsächlich eingetreten, das demokratischere in Teilen – auch wenn damit nur die Anteile der Teilnehmenden gemeint sind – doch die restlichen Versprechungen wurden nicht erfüllt oder besser: von anderen Dynamiken überlagert, die die positiven Seiten kaschieren.
Viralität war einst das entzückende Wunder eines vernetzten Zeitalters; man sah ein lustiges Video, verfiel in ein kollektive Staunen und Heiterkeit und leitete es an seine engsten Freunde weiter. Im besten Fall fühlte sich die Teilnahme an diesen Internet-Events als Fest für die kollektive sozialen Bindungen an. Im schlechtesten Fall erntet man einen Shitstorm.
Viralität wurde zunehmens professionalisiert – zu einfach, käuflich und damit unehrlich. Soziale Netzwerke und sogar Regierungen suchen momentan nach Wegen, um virale Fehlinformationen einzudämmen. Dieser Kampf wird unser Zeitalter maßgeblich beeinflussen. Das Problem ist, dass wir Menschen schlicht zu leichtgläubig sind; jeden Tag fallen viele von uns, sogar Leute, die es besser wissen sollten – auch ich – immer wieder auf Falschmeldungen oder anderen Unsinn herein. Viralität kidnappt unsere guten Instinkte – und weil so viele Geschäftsmodelle im Internet von sofortiger Popularität profitieren, hängt viel Geld und Macht von unseren Fehlern ab.
Soziale Medien leben vor allem von Freude, Verzweiflung, Wut, Furcht, Ekel, Überraschung, Interesse, Scham, Schuld und Verachtung. Diese sieben sogenannten “Primäraffekte” sind bereits vor der kognitiven und sprachlichen Entwicklung ausgebildet. Affekte sind ein intensives, relativ kurz dauerndes Gefühl und besitzen von Beginn des Lebens an einen zentralen Stellenwert. Sie sind die “uranfänglichen Bausteine” des psychischen Lebens. Durch die tägliche Informationsflut wird weniger gelesen und mehr auf Bilder und Videos geachtet. Wenn diese interessant und spannend sind, wird auch eher auf den Text geachtet. Das ist auch der Grund des Erfolgs von Instagram, Youtube und TikTok.
Zivilisierung kann als ein langfristigen Wandel der Persönlichkeitsstrukturen betrachtet werden, die auf den Wandel von Sozialstrukturen zurückzuführen sind. Faktoren des sozialen Wandels sind der kontinuierliche technische Fortschritt und die damit einhergende Differenzierung von Gesellschaften. Das Bindeglied zwischen diesen sozialstrukturellen Veränderungen und den Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur sind die gegenseitigen Abhängigkeiten, in die immer mehr Menschen eingebunden sind. Dies erzwingt eine zunehmende Affektkontrolle, das heißt, zwischen spontanem emotionalem Impuls und tatsächlicher Handlung tritt immer mehr ein Zurückhalten dieses Impulses und ein Überdenken der möglichen Rückwirkungen des eigenen Handelns.
Das führt dazu, dass mehr eigene Handlungen angstbesetzt sind (Scham) oder die der Anderen (Peinlichkeit). Es fordert weiterhin eine gesteigerte Fähigkeit, die Vorgänge innerhalb anderer Menschen zu verstehen (emotionale Intelligenz) und die Fähigkeit die Folgen der eigenen Handlungen über mehrere Kaskaden vorauszusehen (Rationalisierung).
Daraus resultiert eine niedrigere Gewaltbereitschaft vor allem gegenüber Mitgliedern der eigenen Gesellschaft. Gewalt wird zunehmend stärker kontrolliert sowie unterdrückt und tabuisiert, Ausscheidungsfunktionen und Sexualität werden zunehmend tabuisiert oder geregelt und dem Blick anderer Menschen entzogen.
Was hat das mit den sozialen Medien zu tun? Sehr viel.
Es gibt nur eine langfristige Lösung: dass eine kritische Anzahl von uns die Art und Weise ändert, wie wir mit diesen viralen Inhalte umgehen.
Einige sehr einfache Aufforderungen könne lauten:
Ich bin ein Fan von Twitter. Twitter ist ein täglicher, giftiger Albtraum aus Egoismus und Gruppendenken, der uns dazu bringt, unsere Prioritäten in Frage zu stellen, ganz zu schweigen von unserem Verstand.
Was unterscheidet die kreativen, positiven und geistreichen Online-Communities von den toxischen? Oft ist es etwas Einfaches: die inhaltliche Moderation. Die besten Orte im Internet sind durch klare, gut durchgesetzte Community-Richtlinien für die Teilnahme begrenzt. Twitter, Facebook und Co sind deshalb giftig, weil es nur wenige Regeln und wenige Strafen gibt, wenn man sie missachtet.
Der Artikel könnte zur Annahme verleiten, das Internet bestünde nur aus Falschmeldungen und Kulturkriegen, dumpfen Tweets und Manipulationen. Das ist es natürlich nicht. Das Internet ist immer noch reich an schönen, gesunden Nischen, die sich jeder Art von Handwerk verschrieben haben, aus viele Plattformen und Foren in denen sich Fremde zusammenfinden, um sich gegenseitig zu helfen.
Verstärken wir diese Orte – mit etwas weniger affektierten Reaktionen. Davon können wir nur profitieren. Eine bessere digitale Welt braucht Arbeit. Es ist Arbeit, die jeder von uns tun kann und sollte.