Die zerrissene Öffentlichkeit

Die Herausforderung der fragmentierten Öffentlichkeit

In einer zunehmend sensibilisierten Gesellschaft erweist sich der Umgang mit öffentlichen Bekenntnissen als komplexe Herausforderung. Jedes Bekenntnis trägt heute das Potenzial einer Übertreibung in sich, die andere Menschen verletzen kann. Dies ist keine Aufforderung zur Selbstzensur, sondern eine Reflexion über die Verantwortung, die mit öffentlichen Äußerungen einhergeht.

Die fortschreitende Fragmentierung der Medienlandschaft und die geschwächte Position traditioneller Massenmedien stellen keine Bereicherung per se dar. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, eine gemeinsame Sprache zu finden, um dialogfähig zu bleiben – eine weit größere Aufgabe als lediglich handwerklich angemessene Meinungen im Netz zu identifizieren. Die Vielfalt existiert, doch wie gehen wir mit ihr um? Flüchten wir in Bestätigungskanäle oder suchen wir bewusst den unbequemeren Diskurs voller Unsicherheiten und Teilwahrheiten, mit all seinen Nuancen, schwierigen Fragen und komplexen Lösungswegen?

Wie Habermas (1969: 123) konstatiert: »Aber eine Form der politischen Willensbildung gibt es, nach deren Prinzip […] Entscheidungen von einem in herrschaftsfreier Diskussion erzielten Konsensus abhängig gemacht werden sollen – und das ist das demokratische. Das Prinzip der Öffentlichkeit soll dabei jede andere Gewalt als die des besseren Argumentes ausschließen.«

Konzeptionelle Annäherung: Was verstehen wir unter Öffentlichkeit?

Öffentlichkeit definiert sich primär durch ihre Gegenbegriffe: Sie ist weder geschlossen noch geheim oder privat. Nach Plake lassen sich drei Bedeutungsebenen des Öffentlichkeitsbegriffs unterscheiden:

  1. Vorgänge von allgemeinem Interesse
  2. Kommunikation, die sich an alle richtet
  3. Zugangsoffenheit von Räumen und Plätzen

Die grundlegende Voraussetzung für die Konstitution von Öffentlichkeit ist, dass das potenzielle Publikum nicht daran gehindert wird, an diesen Vorgängen teilzuhaben. Entscheidend für die Charakterisierung eines Ereignisses als öffentlich ist weniger die Identität der Protagonisten als vielmehr die Präsenz eines Publikums. Öffentlichkeit konstituiert sich durch Zuschauer, Zuhörer, Zeugen, Vermittler und Kommentatoren.

Öffentliche Räume und Plätze sind demnach Orte, zu denen prinzipiell jeder Zugang hat, die allgemein bekannt sind und die man nutzt, um seinen Willen zu bekunden oder von Einrichtungen Gebrauch zu machen. Sie repräsentieren mehr oder weniger verdichtete soziale Strukturen und formalisierte Vorgänge, die räumlich und zeitlich situiert sind, um hinsichtlich der Verfahrensvorschriften kontrollierbar zu sein.

Das entscheidende Öffentlichkeit konstituierende Element – sei es als Ereignis, als Kommunikation oder als Raum – ist somit die freie Zugänglichkeit bzw. die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Publikums. Dabei ist die faktische Zugänglichkeit nicht zwangsläufig ausschlaggebend.

Die digitale Transformation der Öffentlichkeit

Die Paradoxie des Privaten im öffentlichen Raum

Was bedeutet Öffentlichkeit in einer Zeit, in der potenziell nichts mehr privat oder geheim gehalten werden kann? Epiktets Worte gewinnen hier neue Relevanz: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen und die Urteile über die Dinge.“

Die Proliferation digitaler Plattformen wie Change.org, OpenPetition oder Campact wirft fundamentale Fragen auf: Wie viele Einzelthemen können wir zeitlich und intellektuell bearbeiten? Führt „Clicktivism“ zu einer notwendigen Demokratisierung oder zu einer Verflachung politischer Willensbildung? Sind Modelle fester Strukturen im Zeitalter fluider und flüchtiger Netzwerkgesellschaften möglicherweise gerade deshalb unverzichtbar?

„Likes retten kein Leben“ – dieser Aphorismus verweist auf eine Problematik: Wenn die Bühne der medialen Rezeption so breit wird, dass sie keine Bündelung von Interessen mehr ermöglicht, sondern so ausgedehnt ist, dass zwischen Auditorium und Bühne kaum noch unterschieden werden kann, welche Auswirkungen hat dies auf effektive politische Prozesse?

Aus partizipatorischer Perspektive ist diese Entwicklung zu begrüßen, aus Sicht eines zielgerichteten, lösungsorientierten Ansatzes hingegen problematisch. Politik ist nicht die Summe von Einzelentscheidungen, sondern besteht aus Aushandlungsprozessen, Kompromissen und mitunter auch pragmatischen Vereinbarungen.

Transparenz versus Partizipation

Die Erfahrung zeigt: Menschen empfinden intransparente Prozesse als wesentlich belastender und entmündigender als fehlende Möglichkeiten zur tatsächlichen politischen Mitgestaltung. Aus meinen Beobachtungen wird deutlich, dass vielen Menschen daran gelegen ist, dass politische Prozesse zuverlässig und nachvollziehbar ablaufen. Sie akzeptieren auch ein nachvollziehbares Scheitern, wenn die Entscheidungsgrundlagen transparent gemacht werden.

Deshalb ist Transparenz in Verbindung mit gelungener Willensbildung entscheidender als rein partizipative Möglichkeiten oder flachere Hierarchien. Allerdings kann Transparenz ohne eine Kultur des Vertrauens ebenso wenig funktionieren wie partizipative Prozesse mit intransparenten, unbekannten und damit unvertrauten Personen.

Die Medialisierung des öffentlichen Raums

Streaming als neues Paradigma der Öffentlichkeit und Überwachungsparadoxie

Was zunächst wie eine rein organisatorische oder technische Frage an Veranstaltungsverantwortliche klingt – „Streamen oder nicht streamen?“ – hat weitreichende Implikationen: Es definiert, in welcher Öffentlichkeit die betreffende Veranstaltung stattfinden soll. Dienste wie Periscope oder Hangouts ermöglichen Echtzeit-Streaming mit jedem gängigen Smartphone, vorausgesetzt, eine schnelle Internetverbindung ist verfügbar. Was früher hohen technischen und finanziellen Aufwand bedeutete, ist heute primär eine Frage von Motivation, Datenverbindung und dem Einverständnis der gefilmten Personen.

Kritiker der Videoüberwachung argumentieren unter anderem, dass die Präsenz von Kameras das Verhalten der aufgezeichneten Personen beeinflusst. Obwohl die Prämissen grundlegend verschieden sind, ähnelt das Streaming der Videoüberwachung in einem zentralen Punkt: Es kann das Verhalten der Beteiligten verändern. In Veranstaltungen treffen Menschen in unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Rollen aufeinander. Der Bewusstseinseffekt verstärkt sich besonders bei Personen, die in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Positionen vertreten würden – unabhängig von der Brisanz der Inhalte.

Die Wahl des Speichermediums schafft weitere Differenzierungsebenen: Eine gestreamte Veranstaltung, die ungeschnitten und vollständig im Netz zugänglich bleibt, wird anders bewertet als ein flüchtiger Stream, der nach kurzer Zeit verschwindet.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt: Das Flüchtige hat ebenso eine Daseinsberechtigung wie das Gespeicherte und Archivierte – mit fundamental unterschiedlichen Implikationen. Die Dokumentation einer Veranstaltung in Videoform, die im Netz abrufbar ist, ist grundsätzlich begrüßenswert, insbesondere im politischen Kontext, wo Transparenz essenziell ist, aber die Übertragungspraxis noch in den Anfängen steckt.

Ein neue Rollenverständnis in der digitalen Öffentlichkeit

Die Rolle der Teilnehmenden ist untrennbar mit ihrem öffentlichen Auftrag verbunden. Die Privatmeinung kann am sprichwörtlichen Stammtisch in geschlossener Runde geäußert werden – entscheidend ist die Position, die in der Öffentlichkeit vertreten wird. In Veranstaltungsformaten, in denen Besucher nicht ausschließlich als Interessenvertreter auftreten, agieren die Teilnehmer im Bewusstsein der Speicherung und öffentlichen Zugänglichkeit auf unterschiedliche Weise.

Betrachtet man Kommunikation als chaotisches Wechselspiel, dessen Beiträge sich gegenseitig beeinflussen, reicht bereits ein einziger Teilnehmer, der sich der Konsequenzen der Aufzeichnung bewusst ist, um die gesamte Veranstaltungsdynamik zu verändern.

Diese Veränderung ist nicht per se negativ zu bewerten. Veranstalter sollten sich jedoch bewusst sein, dass der Einsatz von Video- oder Tonaufzeichnungen nicht nur eine Archivierungs- oder Dokumentationsfrage darstellt, sondern fundamentale inhaltliche Auswirkungen hat. Die angemessene Reaktion darauf kann nur durch das gewünschte Format bestimmt werden.

Damian Paderta
Damian Paderta
Webgeograph & Digitalberater