
Der „kognitive Kapitalismus“ ist ein Begriff für die dritte Phase des Kapitalismus, in der Wissen zur wichtigsten Quelle von Wert geworden ist. Nach der ersten Phase (Agrarkapitalismus) und der zweiten Phase (Industriekapitalismus) leben wir heute in einer Zeit, in der nicht mehr hauptsächlich Fabriken oder Maschinen, sondern Wissen und Informationen den größten wirtschaftlichen Wert erzeugen.
In diesem modernen Kapitalismus werden Informationen wie ein Rohstoff behandelt. Unternehmen sammeln Daten, verarbeiten sie und nutzen das gewonnene Wissen, um neue Produkte oder Dienste zu entwickeln. Denken Sie zum Beispiel daran, wie Facebook Ihre Nutzerdaten sammelt, um personalisierte Werbung zu schalten, oder wie Amazon Ihr Kaufverhalten analysiert, um Ihnen neue Produkte vorzuschlagen.
Der Wissenskapitalismus funktioniert wie eine große Maschine, die auf drei wichtigen Prozessen basiert:
- Sammlung wertvoller Informationen: Unternehmen sammeln riesige Mengen an Daten über uns, unser Verhalten, unsere Vorlieben und Gewohnheiten.
- Gewinnung von Mehrwert aus digitalen Inhalten: Aus Software, Apps, digitalen Plattformen und Algorithmen wird Profit erzielt. Der Quellcode von Programmen wird dabei selbst zu einer Quelle von Reichtum.
- Umwandlung von gemeinsamem Wissen in künstliche Intelligenz: Das Wissen, das wir alle gemeinsam ins Internet stellen (z.B. in Wikipedia, auf YouTube oder in sozialen Medien), wird von großen Unternehmen genutzt, um KI-Systeme zu trainieren.
Diese neue Form des Kapitalismus ist auch ein mächtiges Herrschaftssystem. Es verbindet traditionelle staatliche Macht mit der Macht der großen Technologiekonzerne wie Google, Facebook und Apple. Diese Machtstruktur zeigt sich in einem weltweiten Netzwerk aus: Suchmaschinen und sozialen Medien, Lieferketten und Logistiksystemen, vernetzten Geräten (das „Internet der Dinge“), Geheimdienstlicher Überwachung und wissenschaftlichen Einrichtungen. Vereinfacht gesagt: Während im Industriekapitalismus die Fabrikbesitzer die Macht hatten, weil sie die Produktionsmittel besaßen, haben heute diejenigen die Macht, die über die größten Datenmengen und die besten Algorithmen verfügen, um diese Daten auszuwerten und zu nutzen.
Die Dematerialisierung des Kapitals
Das Kapital ist nicht verschwunden, sondern hat einen Dematerialisierungsprozess durchlaufen. Zu den materiellen Investitionsgütern, die Marx bereits analysierte, gesellten sich immaterielle Werte: Software, Datenbanken, Design, Marken und Bildungskapital. Diese immateriellen Investitionen erhalten ihren Status als „Privateigentum“ primär durch rechtliche Schutzinstrumente: Urheberrechte, Patente und Markeneintragungen, die als „Assets“ bilanzierbar werden.
Diese Formen des „Geistigen Eigentums“ weisen jedoch eine höchst problematische Eigentumsstruktur auf, deren Wertbemessung an der Grenze zur Beliebigkeit operiert. Im Kern handelt es sich um reine Monopolverwertungsrechte – staatlich garantierte exklusive Nutzungsrechte für Ideen, Informationen, Marken oder Logos.
Die Krise der traditionellen politökonomischen Kategorien
Der Begriff „kognitiv“ offenbart den neuartigen Charakter von Arbeit sowie die Quellen und Formen ihres Werts. Die Produktion von Wissen durch Wissen versetzt die traditionellen Kategorien der Politökonomie – Wert, Besitz, Produktion, Arbeit – in einen krisenhaften Zustand. Die Mehrwertproduktion basiert zunehmend auf Wissen, dessen Wert sich konventionellen Messverfahren entzieht.
Optimistische Narrative über den kognitiven Kapitalismus charakterisieren sich durch fünf zentrale Annahmen:
- Die Quellen von Profit, Produktivität und Macht in der neuen Ökonomie gelten als immateriell und schwerelos (Wissen, Kreativität, Information, intellektuelles Eigentum)
- Wissensintensive, intellektuelle Tätigkeiten werden zukünftig die Mehrheit aller Tätigkeiten in postindustriellen Gesellschaften ausmachen
- Die neue Bedeutung des Wissens und seine leibliche Verbundenheit verschiebt das Machtverhältnis zwischen Kapital und Arbeit zugunsten letzterer
- Hierarchische Strukturen und bürokratische Managementstrategien werden dysfunktional für die Leistungserbringung
- Performance wird durch Autonomiespielräume generiert, während hierarchische Strukturen durch dezentrale, netzwerkartige Organisationsformen ersetzt werden
Entgegen simplifizierender Erlösungsnarrative entwickeln sich kognitiver und industrieller Kapitalismus im Kontext globaler Arbeitsteilung parallel und relational zueinander.
Die epistemische Dimension des kognitiven Kapitalismus
Der kognitive Kapitalismus manifestiert sich auch in einer epistemischen Verschiebung militärischer und politischer Strukturen. Ein ehemaliger CIA-Chef brachte diese Transformation prägnant zum Ausdruck: „Wir töten Menschen auf der Basis von Metadaten.“
Eine weitere analytische Perspektive verbindet den kognitiven Kapitalismus mit dem Konzept des Anthropozäns. Die wissenschaftliche Beobachtung und politische Wahrnehmung des Anthropozäns basiert auf einem globalen Netzwerk aus Sensoren, Rechenzentren, Supercomputern und wissenschaftlichen Institutionen. Die Konzeptualisierung des Klimawandels konstituiert sich als kognitives Konstrukt, dessen Nachweis primär durch mathematische Modelle erfolgt, die Rohdaten kontextualisieren und mit globaler Bedeutung aufladen.
Das Kapital als Computerberechnung und Kognition
Der „Flash Crash“ von 2010 demonstrierte eindrücklich die Fragilität algorithmischer Handelssysteme. Die Finanzialisierung operiert mittlerweile mit Rechenkapazitäten, die sich von jenen der Klimaforschung kaum unterscheiden. Der Finanzsektor kartographiert eine ökonomische Umwelt von planetarischem Ausmaß – exemplarisch verkörpert durch Unternehmen wie Nanex, dessen Gründer Eric Hunsader behauptet: „Die Datenbank von Nanex ist mittlerweile 20-mal so groß wie die der NASA. Wir haben mehr Daten über Aktien als über den Weltraum.“
Seit Adam Smith, David Ricardo und Marx hat sich das Kapital zu einer Rechengröße entwickelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte die Kopplung der numerischen Dimension des Kapitals mit Kybernetik und Rechenmaschinen, die sukzessive neue Formen erweiterter Intelligenz subsumiert hat. Das Kapital konstituiert sich als Berechnungsinstitution – von der privaten Kontoführung bis zum hochkomplexen Algo-Trading.
Der Finanzkapitalismus weist die Charakteristika eines kognitiven Apparats auf, ausgerichtet auf die computergestützte Steuerung der planetarischen Ökonomie. Wenn Geld, wie Christian Marazzi argumentiert, strukturell wie eine Sprache funktioniert, betreibt die Finanzialisierung die extremste (maschinelle) Weiterentwicklung von Sprache in Form computergestützter Berechnung.
Die Superintelligenz des Kapitals
Der Begriff des „kognitiven Kapitals“ impliziert stets seinen Doppelgänger: das intelligente Kapital als autonome Superintelligenz, deren Handlungsmacht dystopisch auf blinde monetäre Akkumulation ausgerichtet ist – „capital thinks, too“. Der Philosoph Nick Land beschrieb den Kapitalismus als fremde technologische Singularität, die den Planeten kolonisiert. Diese fatalistische Perspektive wurde durch die Akzelerationismus-Debatte transformiert, die versucht, auf gleicher Abstraktionsebene wie der Technokapitalismus ein politisches Gegenprojekt zu konzipieren. Jede Maschine – industriell oder abstrakt – fungiert gleichzeitig als Erkenntnismaschine, als Produkt von Beobachtung und Intuition zur Lösung weltlicher Probleme. Jede Maschine entsteht durch Abstraktion und spiegelt das Diagramm ihrer sozialen Beziehungen.
Wie Charles Babbage (vor Marx) erkannte, ersetzt jede Maschine eine vorherige Arbeitsteilung, um produktive Handlungen zu kodifizieren, zu berechnen und zu kapitalisieren.
Die menschliche Intelligenz transformiert sich in einem komplexen Prozess: Gedanken werden zu Wörtern, Wörter zu Zeichen, Zeichen zu Informationen, Informationen zu Zahlen, Zahlen zu Daten, Daten zu Metadaten, Metadaten zu Mustern, Muster zu Trends, Trends zu Maschinenintelligenz. Das Kapital „vergräbt“ kontinuierlich mehr Wissen, seine numerische Dimension umfasst nicht nur Finanzielles, sondern auch Informationelles und Computerisiertes.
Politische Implikationen
Die Vorstellung des Kapitals als übermenschliche Intelligenzform ähnelt der reaktionären Konzeption des Staates als „Lebensform“ in der deutschen Lebensphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts. Marx beschrieb den Kapitalismus bereits als „automatisches Subjekt“ und setzte dieser technologisch-ökonomischen Singularität den „intelligenten Widerstand“ des gesellschaftlichen Kampfes entgegen.
Der italienische Operaismus argumentierte, dass im Übergang zum Postfordismus die potenzielle Autonomie kollektiver Intelligenz emergieren würde. Die gegenwärtige globale Computerisierung erfordert jedoch eine entsprechende globale politische Dimension. Die Anthropozän-Debatte verdeutlicht, dass politische Handlungsfähigkeit eine neue kognitive Perspektive auf den gesamten Planeten voraussetzt.
Die Konsequenz muss ein entschiedener und radikaler Kampf sein – für Open Data, Open Access, Open Source, für Plattformen wie Sci-Hub und BitTorrent, für eine fundamentale Patentreform und letztlich für die Veränderung des Urheberrechts.