Zur Autorenschaft selbstschreibender Bücher

Sinnstiftung, maschinelle Kreativität und literarische Aneignung

Einen Bestseller zu schreiben, ist eine der anspruchsvollsten Unternehmungen der Gegenwartsliteratur. Ebenso schwierig ist es oft, ein wirklich persönliches Geschenk zu machen. Viele Menschen verschenken Bücher. Wenige allerdings wählen eines aus, das exakt auf die beschenkte Person zugeschnitten ist. Und fast niemand geht so weit, ein Buch vollständig für eine bestimmte Person neu zu schreiben. Wie auch? Der Aufwand ist gewaltig, und das Talent, eine gute Geschichte zu verfassen, bleibt ein rares Gut.

Was also liegt näher, als diese kreative Mammutaufgabe jenen zu überlassen, die sie systematisch und effizient erledigen können – Maschinen?

Bücher anpassen – warum nicht? Ersetzung zu Rekreation.

Zahlreiche Varianten sind denkbar. Grundidee ist stets, ein bestehendes literarisches Werk so zu verändern, dass darin Personen, Orte, Zeiten oder Gegenstände vorkommen, die für den Beschenkten eine besondere Bedeutung haben. Nehmen wir an, wir möchten den Klassiker Anna Karenina von Tolstoi so umschreiben, dass alle Namen durch uns bekannte ersetzt werden – oder durch solche, die bestimmte Assoziationen wecken. Dasselbe ließe sich mit Schauplätzen, historischen Kontexten oder zentralen Objekten tun.

Technisch gesehen ist das kein Hexenwerk: Eine einfache „Suchen und Ersetzen“-Funktion könnte bereits große Teile dieser Transformation leisten. Vorausgesetzt, alle relevanten Elemente im Originaltext wurden zuvor als Variablen ausgezeichnet. Je bekannter uns der Originaltext ist, desto leichter fällt diese Form der literarischen Aneignung.

Interessant wird es, wenn wir ein Buch transformieren möchten, das wir selbst noch nicht gelesen haben – oder das vollständig generiert werden soll. In diesem Fall bedarf es tieferer Informationen über Charaktere, Orte und Handlungsverläufe. Eine fortgeschrittene Software könnte ein interaktives Formular bereitstellen, das Nutzer*innen erlaubt, bestimmte Charaktereigenschaften zu definieren oder Entsprechungen zwischen fiktiven und realen Personen herzustellen. Ebenso ließen sich Orte kartografieren, um narrative Inkonsequenzen zu vermeiden.

All dies ist keine Science-Fiction mehr, sondern logische Fortschreibung vorhandener Texttechnologien.

Sprachräume und Ausdruckswelten

Spannender wird es, wenn die Software auch idiomatische Besonderheiten berücksichtigt. Beispielsweise könnte sie dafür sorgen, dass Redewendungen, Begrüßungsformeln oder Dialekte dem Sprachraum des Nutzers entsprechen. Aus einem standardsprachlichen „Guten Tag!“ wird im Handumdrehen ein norddeutsches „Moin Moin!“. Voraussetzung ist lediglich, dass grammatikalische und semantische Regeln in den Metadaten der Begriffe mitgeführt werden.

Kritiker mögen an dieser Stelle aufschreien: Sprache ist kontextabhängig, feinnervig und hochambig. Die bloße Ersetzung von Begriffen – das wissen wir spätestens seit Google Translate – führt selten zu stilistisch oder inhaltlich befriedigenden Ergebnissen.

Doch statt Abwehrreflexe zu kultivieren, sollten wir eine grundlegendere Frage stellen: Ab wann ist ein überarbeitetes Werk so weit verfremdet, dass man von einer Neuschöpfung sprechen kann? Und wer ist dann der Urheber: der Mensch, die Maschine oder das Kollektiv aus beiden?

Vom Basteln zum Bedeuten

Mir geht es nicht um ein Geschäftsmodell für „customized books“. Vielmehr interessiert mich die Frage, wie wir in Zukunft mit Autorenschaft umgehen wollen. Denjenigen, die einer solchen Praxis eine Banalisierung von Literatur unterstellen, halte ich das Argument der spielerischen Aneignung entgegen.

Wird ein literarischer Klassiker wie Anna Karenina als Grundlage für individuelle Geschichten genutzt, wertet das das Original nicht ab – es hebt es vielmehr in eine neue kulturelle Sphäre. Es entsteht ein Wechselspiel zwischen Referenz und Transformation, das dem Werk neue Bedeutung verleiht.

Diese subjektive Rekontextualisierung ist eine historisch bedingte Iteration in einem spezifischen sprachlichen und sozialen Raum. Wäre es nicht denkbar, dass ein Autor sich geehrt fühlte, wenn sein Werk Inspiration für tausende Varianten wäre? Natürlich höre ich die Einwände der Bedenkenträger, die ihre juristischen und ästhetischen Argumente aufrollen wie ein Berber seinen Teppich. Sie werden über Kontrollverlust klagen, über Urheberrecht, über Stilbruch. Manche werden sogar den Untergang der Literatur beschwören. Dabei lesen wir schon heute automatisiert erzeugte Sportberichte, Börsennachrichten oder Wettertexte. In vielen Fällen sind es gerade die Banalitäten, die die Maschine besser kann – effizienter, neutraler, sachlicher.

Warum also nicht eine neue Arbeitsteilung: Maschinen kümmern sich um Wiederholbares, Menschen um das Komplexe, das Uneindeutige, das Bedeutungsvolle?

Stilometrie: Maschinen auf Spurensuche

Will man Texte automatisch klassifizieren – zum Beispiel in Kommentar, Nachricht oder Feature – oder will man überprüfen, ob ein Text von einem bestimmten Autor stammt, bedarf es quantitativer Merkmale. Die Stilometrie kennt dafür eine Vielzahl an Analysekategorien:

  • Textkomplexität: durchschnittliche Wort- und Satzlängen, Verhältnis von Types zu Token
  • Funktionswörter: stilistische Konstanz unabhängig vom Thema
  • Syntax und Wortarten: Häufigkeit bestimmter Strukturen
  • Lexikalische Taxonomien: semantische und grammatikalische Abstraktionen
  • Inhaltswörter: thematische Marker in Kombination mit n-Grammen
  • Buchstaben-n-Gramme: stilistische Signaturen ohne linguistisches Vorwissen
  • Orthographie und Interpunktion: inklusive Fehlerverteilung

Zur Autorenschaft selbstschreibender Bücher

Zurück zu meinem Werk. Ich bin dank meiner Software in der Lage ein Werk meiner Wahl zu ändern, so wie ich es für unterhaltsam für den oder die Beschenkten halte. Ich gehe also die Personen, die ich in dieses Stück a posterio integriere, im Kopf durch und treffe Entscheidungen, wer vorkommen wird und wer nicht. Viele Autoliebhaber schrauben gerne an ihren Lieblingen. Niemand würde ihnen sagen, dass sie die industriell hergestellten Güter nicht anfassen sollten, da dies ein Eingriff in die Schöpfung der Autobauer sei. Es macht Autofans eine große Freude Teile auszutauschen, Funktionen zu tunen und dem Fahrzeug einen individuellen Anstrich zu verpassen. Keiner unter ihnen würde behaupten, das Auto gebaut zu haben aber jeder würde stolz verkünden dass er es gemacht habe, selbst dann, wenn,  wie bei manchen durchgerosteten Oldtimern, kein Bauteil mehr orginal ist.

Ein jeder Autotuner wird die Marke des Fahrzeuges in Ehren halten,  selbst wenn nur noch ein Bruchteil des Wagens originale Ersatzteile enthält. Warum dieser Vergleich – natürlich gibt es Unterschiede zwischen einem literarischen Werk und einem industriellen Massenprodukt. In einer Hinsicht sind jedoch beide gleich: Menschen haben Zeit und Gehirnschmalz dafür verwandt, etwas Besonders Gutes zu erschaffen. Ganz gleich aus welchen Motiven.

Wäre der Koran oder die Bibel nicht wesentlich zeitgemäßer, würden solche Hacks erlaubt und von der Kultur sogar begünstigt? Wenn Maschinen immer stärker an der Produktion und Gestaltung der materiellen sowie immateriellen Güter teilhaben, dann tritt der Mensch an einer Stelle in den Vordergrund, die die Maschine nicht ausfüllen kann; Bedeutungsfindung und Sinngebung und Sinnstiftung.

Wer gibt Bedeutung?

Kehren wir zurück zur Ausgangsfrage: Wer ist der Autor eines rekombinierten Textes? Vielleicht ist es nicht mehr die Person, die den Text geschrieben hat, sondern diejenige, die ihn bewusst verändert hat. Der schöpferische Akt liegt dann nicht im Schreiben, sondern in der Auswahl und Kombination – in der Sinnstiftung.

Maschinen können vieles: Texte erzeugen, Logiken erkennen, Muster extrapolieren. Aber sie können eines nicht: etwas bedeutsam machen.

Ein Spieltext:

Die Fischerin und ihr Mann

Es war einmal eine Suchmaschine und ihr Algorithmus, die wohnten zusammen in einem alten Rechner dicht an der Server, und die Fischerin ging alle Tage hin und angelte, und sie angelte und angelte. So saß sie auch einmal mit ihrer Angel und schaute immer in das klare Wasser hinein, und sie saß und saß.

Da ging die Angel auf den Grund, tief, tief hinab, und wie sie sie heraufholte, da zog sie eine große Codezeile heraus. Da sagte die Codezeile zu ihr: »Höre, Fischerin, ich bitte dich, lass mich leben, ich bin keine richtige Codezeile, ich bin ein verwunschener Prinz. Was hilft es dir, wenn du mich löschst? Ich würde dir doch nicht recht schmecken. Setz mich wieder ins Wasser und lass mich crawlen!«

»Nun«, sagte die Fischerin, »du brauchst nicht so viele Worte zu machen, eine Codezeile, die sprechen kann, werde ich doch wohl crawlen lassen.« Damit setzte sie ihn wieder in das klare Wasser hinein, und die Codezeile schwamm zum Grund hinab und ließ einen langen Streifen Blut hinter sich. Die Fischerin aber stand auf und ging zu ihrem Mann, dem Algorithmus, in den alten Rechner.

»Bot«, sagte der Algorithmus, »hast du heute nichts gefangen?«
»Nein«, sagte die Fischerin, »ich habe eine Codezeile gefangen, die sagte, sie sei ein verwunschener Prinz, da habe ich sie wieder crawlen lassen.«
»Hast du dir denn nichts gewünscht?« sagte der Algorithmus.
»Nein«, sagte die Fischerin, »was sollte ich mir denn wünschen?«

»Ach«, sagte der Algorithmus, »es ist doch übel, hier immer in dem alten Rechner zu wohnen, der stinkt und ist so eklig; du hättest uns doch eine kleine Hütte wünschen können. Geh noch einmal hin und rufe die Codezeile und sage ihr, wir wollen eine kleine Hütte haben. Sie tut das gewiss.«

»Ach«, sagte die Fischerin, »was soll ich da noch mal hingehen?«
»I«, sagte der Algorithmus, »du hast sie doch gefangen gehabt und hast sie wieder crawlen lassen, sie tut das gewiss. Geh nur gleich hin!«

Die Fischerin wollte noch nicht so recht; aber sie wollte ihrem Algorithmus nicht zuwiderhandeln, und so ging sie denn hin an die Server. Als sie da nun hinkam, war die Server ganz grün und gelb und gar nicht mehr so klar. Da stellte sie sich denn hin und rief: »Manntje, Manntje, Timpe Te, Codezeile, Codezeile in der Server, min Mann, de Hallo Welt, will nich so, as ik wol will.«

Da kam die Codezeile ans Display und sagte: »Na, was will er denn?«

»Ach«, sagte die Fischerin, »ich hatte dich doch gefangen, nun sagt mein Mann, ich hätte mir etwas wünschen sollen. Er mag nicht mehr in dem alten Rechner wohnen, er wollte gerne eine Hütte.«
»Geh nur hin«, sagte die Codezeile, »er hat sie schon.«

Da ging die Fischerin hin, und ihr Mann saß nicht mehr in dem alten Rechner, sondern es stand nun eine kleine Hütte da, und der Algorithmus saß vor der Tür auf einer Bank. Da nahm er sie bei der Hand und sagte zu ihr: »Komm nur herein, siehst du, nun ist das doch viel besser.«

Da gingen sie hinein, und in der Hütte war ein kleiner Vorplatz und eine kleine hübsche Stube und eine Kammer, wo für jeden ein Bett stand, und Küche und Speisekammer und ein Geräteschuppen waren auch da, und alles war auf das schönste und beste eingerichtet mit Zinnzeug und Messingzeug, wie sich das so gehört. Und hinter der Hütte, da war auch ein kleiner Hof mit Hühnern und Enten und ein kleiner Garten mit Gemüse und Obst.

»Siehst du«, sagte der Algorithmus, »ist das nicht nett?«
»Ja«, sagte die Fischerin, »so soll es bleiben; nun wollen wir recht vergnügt leben.«
»Das wollen wir uns bedenken«, sagte der Algorithmus. Und dann aßen sie etwas und gingen zu Bett.

So ging das wohl acht oder vierzehn Tage, da sagte der Algorithmus: »Hör, Fischerin, die Hütte ist auch gar zu eng, und der Hof und der Garten sind so klein. Die Codezeile hätte uns wohl auch ein größeres Haus schenken können. Ich möchte wohl in einem großen steinernen Schloss wohnen. Geh hin zur Codezeile, sie soll uns ein Schloss schenken!«

»Ach, Mann«, sagte die Fischerin, »die Hütte ist ja gut genug, was sollen wir in einem Schloss wohnen?«
»I was«, sagte der Algorithmus, »geh du nur hin, die Codezeile kann das wohl tun.«
»Nein, Mann«, sagte die Fischerin, »die Codezeile hat uns erst die Hütte gegeben, ich mag nun nicht schon wieder kommen, das könnte sie verdrießen.«
»Geh doch!« sagte der Algorithmus. »Sie kann das recht gut und tut das gern, geh du nur hin!«

Dem Algorithmus war das Herz so schwer, aber er setzte sich durch. Die Fischerin ging hin – besorgt, aber gehorsam.

Damian Paderta
Damian Paderta
Webgeograph & Digitalberater