
Auf den ersten Blick scheint Anonymität eine Lösung für sehr viele datenzschutzrelevante Probleme im Netz zu sein. Starke Anonymität verhindert das Tracking durch kommerzielle Datensammler, schränkt die Überwachungsmöglichkeiten der Polizei und Geheimdienste ein, bietet Whistleblowern Schutz, schützt vor persönlichen Angriffen in Foren durch Passing. Unter Passing versteht man das soziologische Phänomen, dass die soziale Identität einer Person – etwa Rasse, sexuelle Orientierung, Geschlecht, Klasse, oder eine Körperbehinderung – von Außenstehenden nicht erkannt wird und die Person damit nicht den mit dieser Identität verbundenen gesellschaftlichen Erwartungen, Normen und Rechten unterliegt. Es sind also besonders die diskriminierten und stigmatisierten Gruppen denen ein anonymes Konto hilft, gesellschaftliche digitale Teilhabe zu erleichtern.
Mein Name ist nicht Anonymous
Ich persönlich setze dagegen regelmäßig meinen vollen und richtigen Namen im Netz ein oder richte Accounts mit diesem ein. Obwohl dieser kein zweites Mal vorkommt (laut Google), möchte ich mit der Angabe meines Namens die Bedeutung meiner Interaktion betonen oder einfach die Nachvollziehbarkeit meiner Handlungen und damit auch meiner Person ermöglichen. Ich möchte für die getroffenen Aussagen und Interaktionen mit meinem vollen Namen stehen. Im Gegensatz zu vielen anderen reziproken Etiketten, erwarte ich dies von meinen Interaktionpartnern nicht zwangsläufig. Ich beende erst an dem Zeitpunkt die Diskussion mit Anonymen, wenn Anschuldigungen oder intime Details verlautbart werden. An dieser Stelle gilt: Wer mit Dreck wirft darf sich nicht in den Schutz der Dunkelheit flüchten. Eine Klarnamenpflicht lehne ich dennoch ab, denn sie zwingt den Nutzer mehr Daten über sich selbst bekannt zu geben, als er vielleicht möchte. Die Plattformen die diese Pflicht fordern, können oder wollen für die Sicherheit der Daten aber nicht gewährleisten. Anonyme Identitäten sind dabei für die persönliche als auch für die gesellschaftliche Entwicklung unerlässlich. Wir nehmen täglich verschiedene Rollen im Leben an. Anonymität und der damit verbundene Schutzraum ist für eine Demokratie essentiell. Bereits jetzt können allein über die Begriffe, die in Suchmaschinen eingegeben werden, ganze Personenprofile erstellt werden. Neben den unbestreitbaren Vorteilen hat Anonymität aber auch Schattenseiten. Einige kleine Denkanstöße sollen zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit Anonymität anregen.
Anonymität um jeden Preis?
Am Beispiel ANONYMOUS sieht man einige Nachteile deutlich. ANONYMOUS ist als Protestgruppe gegen Scientology gestartet und mit dem Einsatz der „low orbit ion canone“ (LOIC) gegen Banken zur Unterstützung von Wikileaks bekannt geworden. Der Name der Software bezeichnet eine fiktive Massenvernichtungswaffe aus dem Computerspiel.Sie erzeugt eine hohe Belastung beim Zielrechner, dessen Verhalten dann bis hin zum Versagen beobachtet werden kann.
Die Wurzeln von Anonymous liegen vornehmlich in sogenannten Imageboards, auf denen alle unzensiert und unmoderiert Bilder und Botschaften hinterlassen können, wobei auch ein Name angegeben werden kann. Allerdings tut das kaum jemand, weswegen die meisten Beiträge mit dem Namen „Anonymous“ gekennzeichnet sind. So stammt der Name des Kollektivs wahrscheinlich daher, dass – je nach technischer Voreinstellung – bei unangemeldeter Benutzung sämtliche Einträge in den Imageboards mit „Anonymous“ gekennzeichnet werden. Das Label ANONYMOUS kann heute jeder Internetnutzer für beliebige Zwecke missbrauchen und die Bewegung diskreditieren.
Reputation, Vertrauen, Respekt und Verantwortung sind an Persönlichkeit gebunden. Dabei muss Persönlichkeit nicht unbedingt mit einem realen Namen verbunden sein. Reputation und Respekt kann man auch unter einem Pseudonym oder als eine Gruppe erwerben, wenn man die Verantwortung für seine Handlungen übernimmt.
Im Schutz der Anonymität muss man aber keine Verantwortung für sein Handeln übernehmen, da Fehlverhalten oder gesellschaftlich unerwünschten Handlungen nicht sanktioniert werden können. In einem Diskussionsforum kann man sich verbale Entgleisungen erlauben, ohne negative Reputation für seine Person fürchten zu müssen. Man verwendet in Zukunft einfach einen neuen anonymen Account und beginnt von vorn. Dieser Umgang mit Anonymität ohne Verantwortung stört im einfachen Fall nur. Er kann aber auch schwerere Auswirkungen haben.
Ein anonymer Schwarm vereinzelter Individuen kann sich zu einem Shitstorm zusammenfinden. Der Schwarm kann kurzzeitig viel Lärm produzieren ohne gesellschaftlichen Diskurs und wird dann wieder zerfallen. Er wird kein „Wir“ entwickeln und kann keine gemeinsamen Ziele verfolgen, die über einen kurzzeitigen Hype in den Medien hinaus gehen. Außerdem lassen sich Empörungswellen durch eine kritische Masse anonymer Sockenpuppen leicht manipulieren. Sogenannte Sockenpuppen können dem Schutz der Privatsphäre dienen indem neben dem Hauptaccount zusätzliche Accounts erstellt werden zusätzliche User zu suggerieren. Sockenpuppen können jedoch auch im missbräuchlichen Sinne angelegt werden, um andere Benutzer oder deren Argumente zu diskreditieren oder ganz allgemein illegitime Zwecke zu verfolgen. The Guardian berichtete im Jahre 2011 über eine in Auftrag des US-Militärs gegebene Software, dies es ermöglichen sollte Soziale Medien mithilfe von Sockenpuppen zu manipulieren. 50 Militärbedienstete sollten je maximal 10 verschiedene Identitäten kontrollieren können. Ziel dieser sollte sein, unwillkommenen Meinungen entgegenzuwirken und falschen Konsens in nichtenglischsprachigen Online-Foren herzustellen.
Vertrauen ist eine harte Währung
Ein Beispiel, um den Konflikt zwischen Anonymität und Vertrauen zu zeigen: Ich kann mir ganz anonym in meiner Einsiedlerzelle mit einem Anonymisierungsdienst wie z.B. TOR bei YouPorn oder RedTube etc. erotischen Fantasien nachgehen oder ich kann eine Frau im Arm halten, die sich sehnsuchtsvoll an mich schmiegt, ihre Haut spüren, das gegenseitige Begehren fühlen und in einen Strudel der Lust versinken.
Bei der ersten Variante bleibt meine Anonymität gewahrt, aber sie hinterlässt gähnende Leere und Einsamkeit. Die zweite Variante funktioniert nur mit gegenseitigem Vertrauen und Respekt. Um meine Liebesbriefe gegen mitlesende Schlapphüte zu schützen, ist jedes Mittel zulässig, aber Krypto, anonyme E-Mail usw. sind nur ein Werkzeug, kein Selbstzweck. Für ein soziales Zusammenleben und gemeinsame Ziele brauchen wir Vertrauen. Vertrauen kann missbraucht werden, man muss es nicht leichtfertig verschenken. Es ist aber wichtig, bei aller gebotenen Vorsicht, auch einen Weg zu finden, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen.
Das Beispiel kann man auf beliebige Gebiete übertragen. Es gilt für politische Aktivisten, die genug haben von der Simulation von Demokratie und dem Stillen Putsch etwas entgegen setzen wollen und es mag für Mitglieder eines Kleintierzuchtverein gelten, die in den Suchergebnissen bei Google nicht ständig Links für Meerschweinchenfutter finden wollen. Welche Werkzeuge angemessen sind, hängt immer von den konkreten Bedingungen ab. Eine umfassende und permanente Anonymität kann nicht im Sinne eines gesellschaftlichen Zusammenlebens sinnvoll oder akzeptabel sein.