
Inhaltsverzeichnis
Die Metropole bietet von Natur aus das, was sonst nur durch Reisen möglich ist, nämlich das Fremde und Eigenartige. Doch Metropolregionen inszenieren sich heute als Zentren des globalen Kapitalismus, mit ihren zentral platzierten Monumenten des Konsums und Finanzwesens, welche an die Stelle erschwinglichen Wohnraums oder Stätten öffentlicher Begegnung treten. Auf der Seite des Geldes wird städtischer Raum nach seinem Tauschwert, also Quadratmeterpreisen klassifiziert, während die Anwohner die Qualität von städtischem Raum nach dem Nutzwert beurteilen.
Die Kämpfe um den öffentlichen bzw. städtischen Raum sowie um die Definitionsmacht des Urbanitäts-Begriffes waren wohl selten stärker als heute. Wenn öffentliche Flächen oder Objekte privatisiert werden, rechtfertigen sich die Zuständigen u.a. mit der Behauptung, dass Menschen immer weniger auf gemeinsame Ressourcen angewiesen sind. Doch es gibt Gegenstimmen, die sich mit der Materie besser auskennen: Architekten, Städteplaner und Urbanisten stellen den Wert des öffentlichen Raumes und seiner sozialen Funktion wieder verstärkt in den Mittelpunkt.
Es geht um eine lebenswerte, offene Stadt in der es auch Plätze des öffentlichen Lebens gibt, die nicht kommerzialisiert und von privaten Sicherheitsfirmen überwacht werden. Es geht um Orte ohne ubiquitäre digitale Überwachung, zumutbare Mieten und selbstbestimmte – sogar selbstverwaltete Räume. Die Zersetzung des Raumes durch Privatisierung ruft diejenigen auf den Plan, die diese Exklusion nicht hinnehmen wollen und sich radikal dagegen zur Wehr setzen. Doch leider, so die These in diesem Artikel, ist die Proklamation des Rechts oft unvollendet und zu individualisiert gedacht und führt nicht automatisch zu den Wunschvorstellungen Derjenigen die diese einfordern.
Das Recht auf Stadt
Viele stadtpolitische Gruppen benutzen den Slogan „Recht auf Stadt“ von Henri Lefebvre. Der französischen Theoretiker beschreibt in seinem Buch „Le droit à la ville“ die Urbanisierung der Gesellschaft unter kapitalistischen Vorzeichen. Im Massenwohnungsbau und in den Eigenheimsiedlungen sieht er Ende der 1960er eine Homogenisierung von Lebensbedingungen und eine kapitalistische Kolonisation des Alltagslebens. Lefebvre setzt all dem die Stadt als Utopie entgegen. „Stadt“ bildet einen Raum zwischen der privaten, beschränkten und der globalen, kaum mehr fassbaren Ebene der Gesellschaft.
Die Stadt steht für ihn für die Möglichkeit von Differenz, anders zu sein als die anderen, als Chiffre für Zentralität, als Möglichkeit der Kommunikation zwischen Unbekannten, als das Potential, unerwarteten Situationen zu begegnen. Damit postuliert Lefebvre den Anspruch auf das universelle Recht aller Menschen, an den Vorteilen des urbanen Lebens teilzuhaben. Urbaner Raum entsteht als Netz sozialer Relationen, die jeweils eigene Formen, Strukturen und Funktionen herausbilden. Der Raum existiert nicht an sich, sondern als Vielzahl sozialer Räume, die einander überlagern und ergänzen, in Kontrast zueinander treten, sich verbinden und trennen. Besonders der öffentliche Raum ist davon gekennzeichnet.
Mein kleiner Rosengarten
Die positiven Auswirkungen von öffentlichen Raum auf Wachstum, Wohlbefinden und der Möglichkeit nicht-selbstähnliche Menschen zu treffen und mit ihnen vertraut zu werden sind weitgehend bekannt. Vor allem Letzteres ist wohl die wichtigste Möglichkeit. Die Auseinandersetzung mit Vielfalt und Andersartigkeit. Das Versprechen eines besseren Lebens, dass die Stadt auszustrahlen scheint, ist gleichzeitig auch ihr Herzschlag. Eine offene Gesellschaft ist auf Zufallsbegegnungen mit dem Fremden, Anderen und sogar etwas Ungemütlichen angewiesen. In öffentlichen Räumen kann das Aushalten von Verschiedenheit geprobt und gelebt werden. Oft als Zugewinn – manchmal als Erfahrung es das nächste Mal besser zu machen – oder im schlimmsten Fall als Erkenntnis, dass etwas „schief“ läuft.
Vor allem Privilegierte innerhalb einer individualisierten Gesellschaften können sich Räume aneignen, die starke Kontrolle und Vorhersagbarkeit versprechen und soziale Homogenität fördern. Selbstverständlich fällt es mondäneren Milieus nicht leicht zuzugeben, dass auch ihre Umgebung ein reiner Rosengarten ist. Hier wird sich zur Selbstvergewisserung der eigene proklamierten Vielfalt auf die verschiedenen Rottöne der Rosenblätter verwiesen „Man kenne ja Sonnenblumen schon aus dem Urlaub“. Dieser „Rosengarten“ steht ganz im Gegensatz zu dem was auch deren Bewahrer einst in der Stadt gesucht und gefunden haben: Vielfalt, Begegnung und Überraschung.
Eine Frage des Designs?
Manche Urbanisten glauben, dass viele der Probleme der Stadt mit dem passenden Design gelöst werden könnten. Es müsste nur baulich eingegriffen werden, um sie für die Bedürfnisse der Menschen anzupassen. Die Städte sollen flexibler und attraktiver werden. Hauptsächlich dient die Ware in der kapitalistischen Logik als Ware selbst und stellt die Cash-Cow für die umliegende Region dar. Doch nicht die Architektur braucht zwingend eine Auffrischung, sondern unsere Gewohnheiten. Tatsächlich schätzen wir den öffentlichen Raum nicht wirklich, weil wir darauf bedacht sind, dass er uns als Recht gegeben werden sollte – statt dass wir ihn durch Begegnungen, Interaktionen und vor allem Verhandlungen erschaffen.
Der öffentliche Raum ist voller Konfrontationen
Ich sitze beim Verfassen dieser Zeilen in den Bonner Rheinauen. Es ist der heißeste Sommer seit langem. Auf den Wiesen und unter den Bäumen der großen Anlage am Rhein bleiben Blicke auf Gruppen und Familien kleben, die sich zum Grillen, Quatschen und Musik hören versammeln. Die jüngsten Familienmitglieder wimmeln trotz drückender Hitze ekstatisch um die Bäume und klingeln unaufhörlich auf den klappernden Rädern. Es nervt mich.
Viel weiter, aber noch in erfahrbarer Nähe, spielt eine Gruppe junger Männer Fußball – im Hintergrund zischt und wummert deutscher Gangsterrap aus den Bluetooth-Boxen. Die Gruppe ist entspannt, was im ersten Moment nicht zu ihrer Wortwahl passt, die abwechselnd den ewigen Turnus von Provokation Siegesjubel und der bloßen Nennung von Verwandschaftsbeziehungen wie Mutter, Vater oder Bruder wechselt und doch eine friedliche-aktive Kulisse bildet. Die aus meiner Sicht hohlen Sprüche stellen meinen Geist auf die Probe.
Flankiert werden diese Truppen von Radfahrern. Daneben spielen Hundebesitzer das Spiel der langen Leine, um ihre wenig untertänigen Lieblinge nach wenigen Sekunden Freilauf wieder in militärischer Manier „bei Fuß“ zu pfeifen. Auch das ruft in mir eher Unverständnis denn Sympathie auf den Plan. Später verlasse ich das Gelände und spaziere zu einem Platz inmitten der Stadt. Auf den Parkbänken haben sich Trinker Tweenies, Alternative und junge Familien niedergelassen. Es ist Abend und schmackhaftes Nervengift, sommerliche Gelassenheit und anregende Gespräche lassen einzelne Schreie und Lacher aufkommen.
Auch passieren Hund und Herrchen die engen Korridore, die die belegten Bänke übrig lassen und nicht immer schaffen sie es, ohne dass ihre angeleinten Stadtbewohner die Plastikbälle der Kinder schnappen möchten. Lediglich Blicke und Gesten verraten in diesem Spiel der Begegnungen, ob diese unverhofften Kontakte nun als wohlwollend, gleichgültig oder abgelehnt eingestuft wurden.
Alle haben Recht
In jeder dieser Begegnungen liegt ein Tauziehen zwischen verschiedenen Denkweisen, nicht nur über den öffentlichen Raum, sondern auch darüber, was es bedeutet eine Bürger*in zu sein. In einer liberalen politischen Ordnung herrscht das Paradigma der „Rechte“ vor. Von der Französischen Revolution bis zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung kann die Geschichte der Demokratie als eine Geschichte der Ausweitung der staatlich garantierten Ansprüche und Privilegien gelesen werden, die dem Einzelnen zustehen. In der Folge haben wir uns vom Verständnis des Bürgers als „Knotenpunkt in einer sozialen Hierarchie“ weg- und uns auf die Idee einer freien Person zubewegt, die durch ein Bündel von Rechten definiert ist: „Ich habe ein Recht hier zu sein und das hier zu tun!“
Sollten öffentliche Räume aneignet werden?
Die Aneignung von Raum kann in Verhältnissen starker Machtdifferenzen als legitime Praxis „von unten“ beschrieben werden. Hier spielt zweifellos die Frage nach Legitimation und Kapital der Aneigner eine Rolle. In sozial stark vertikalen Umgebungen kann dieses beanspruchte Recht also eine wichtige Entwicklung im demokratischen Sinn sein. Doch wie sieht es in stärker horizontalen Umgebungen aus?
Alkohol-Genießer haben ein „Recht“ auf der Parkbank Bier zu trinken, Eltern haben ein „Recht“ dort die Kinder spielen zu lassen, aber auch Hundehalter*Innen haben ein „Recht“, mit ihren Hunden spazieren zu gehen. Solche Zusammenstöße führen in eine Sackgasse, wenn wir in diesem Zusammenhang allein an die unseren echten oder vermeintlichen „Rechte“ denken. Alle Konfliktparteien können vernünftige Argumente vorbringen, warum ihnen der Zugang zum Raum wichtig ist. Ihre Ansprüche schließen sich jedoch gegenseitig aus, weil sie auf „gleichen“ Rechten beruhen. Keine der Parteien fühlt sich verpflichtet, ihre eigenen Interessen um der anderen willen auszusetzen. Wir alle haben ein Recht auf Parks, Spielplätze oder was auch immer in öffentlichen Räumen.
Die Frage, welche Art von Stadt wir wollen, lässt sich nicht von der Frage trennen, welche Art von Menschen wir sein wollen. Welche sozialen Beziehungen suchen wir? Welche Beziehungen zur Natur wollen wir pflegen? Welchen Lebensstil wünschen wir uns? Welche Technologien und ästhetischen Werte nehmen wir für uns an? Das Recht auf die Stadt ist also weit mehr als ein Recht auf Zugang zu den Ressourcen, die die Stadt verkörpert: Es ist ein Recht, die Stadt nach Herzenslust zu verändern und neu zu erfinden, formuliert David Harvey.
Die Idee ist, dass wir alle Zugang zu öffentlichen Gütern brauchen, um ein lebenswertes Leben führen zu können – sei es in Parks, in denen wir uns bewegen können, in Leitungen die uns Wasser bringen oder in Museen, um unseren Horizont zu erweitern. Jeder von uns stellt jedoch andere Anforderungen an diese Annehmlichkeiten. Ältere und behinderte Menschen könnten besondere Vorkehrungen von den öffentlichen Verkehrsmitteln verlangen; die Installation einer besseren Straßenbeleuchtung könnte besonders für Frauen wichtig sein, die allein nach Hause gehen; Aktivist*Innen brauchen Räume, um sich zu versammeln und zu protestieren, Hundehalter*Innen große Flächen auf denen ihre Hunde frei laufen und koten dürfen.
Wer hat Recht, wenn es alle haben?
Um diesen vielfältigen und sich ändernden Bedürfnissen gerecht zu werden, haben die Menschen das Recht, nicht nur Zugang zu öffentlichen Einrichtungen zu erhalten, sondern sie entsprechend ihren Bedürfnissen mitzugestalten. Mit anderen Worten: für die Bürger*Innen sollte das ideale städtische Umfeld immer wieder neu erschaffen werden. Aber einige Polylemma – also Situationen in der zwischen mehr als zwei Möglichkeiten gewählt werden kann, von denen aber keine eindeutig zu bevorzugen ist, weil alle gleich schlecht oder gut sind – des Stadtlebens lassen sich nicht durch sorgfältige Planung lösen. Ohne die Möglichkeit, ein völlig faires Urteil darüber zu fällen, wessen Recht Trumpf ist, können sich konkurrierende Ansprüche über den öffentlichen Raum leicht in einen lauten Disput verwandeln. Diejenigen mit der stärksten Präsenz gewinnen – der Rest schleicht sich davon. Kein zivilisierter Ausgang eines Streits.
Während Senioren ihnen unliebsame Veranstaltungen aufgrund der Lärmbelastung aus der Innenstadt klagen, Obdachlose von der Polizei bedrängt werden, die junge Familie „zum Wohle der Kinder“ in Viertel mit niedrigen Migrantenanteil ziehen, vollzieht jeder und jede nur das was in Anbetracht seine individuellen Bedürfnisse passend erscheint. Nachvollziehbar! Aber das kann dazu führen, dass wir uns selbst ausgrenzen und in Gegenden ziehen wo „unseresgleichen“ wohnt und etwas Party in der Nacht uns nicht ärgert, solange der Musikstil maximal im erweiterten Repertoire unserer eigenen Playlisten wiederzufinden ist. Kurz gesagt, wenn wir die öffentlichen Räume als etwas betrachten, dass nur zur Sicherung von unseren Rechten existiert, dann sind sie nur ein zweitrangiger Ersatz für unsere privaten Räume.
Vertrauen ist ausschlaggebend
Aber es gibt einen anderen Weg, um über das städtische Gemeinwesen zu denken – nicht in Form von Rechten, sondern in Form von Vertrauen. Es gilt Auseinandersetzungen nicht zu vermeiden, sondern sorgfältig als Mittel zur Konsensbildung zu nutzen. Politisch zu sein, in einer Polis zu leben, bedeutete, dass alles durch Worte und Überzeugungen entschieden wird und nicht durch (verbale) Gewalt. Jede politische Situation besitzt mehrere Lösungsmöglichkeiten. Aber die Gerechteste ist diejenige, die unterschiedlichsten Ansichten berücksichtigt. Um dies zu erreichen, müssen die Menschen bereit sein sich gegenseitig in der Öffentlichkeit bekannt zu machen – sie müssen bereit sein, ihr Leben und ihre Ängste und Werte offen zu legen und sich an der schwierigen Aufgabe zu beteiligen, die Perspektive des anderen verstehen zu wollen. Von anderen gesehen und gehört zu werden, ergibt sich aus der Tatsache, dass jeder von einer anderen Position aus sieht und hört. Dadurch verstehen wir die Pluralität der Welt, und wir können unser Denken auf diese Pluralität abstimmen.
Die Schwierigkeit bei diesem Modell des öffentlichen Lebens besteht darin, dass es hohe Selbstbeherrschung erfordert: Es geht daran festzuhalten, dass niemand per se ein Recht auf den öffentlichen Raum hat, sondern das der öffentliche Raum erst nutzbar wird, wenn wir Wege finden mit Anderen zusammenzuarbeiten. Dies erfordert Übung, in mindestens zweifacher Hinsicht. Zum einen müssen wir uns mit der Kommunikation über die Grenzen hinweg vertraut machen – das Erlernen der Sprache und der subtilen Gesten und Mimiken, die sofort signalisieren, dass wir auf der gleichen Seite stehen. Andererseits erfordert es den Glauben, dass auch andere sich bemühen werden, uns zu verstehen und aufzunehmen. Dieser Glaube wird mit der Zeit immer fester, da wir immer mehr Beweise dafür sammeln, dass gegenseitiges Handeln tatsächlich möglich ist. Beides erfordert also Vertrauen – Vertrauen, dass es möglich ist, zu lernen, andere zu verstehen, und Vertrauen, dass sie versuchen, uns zu verstehen.
Mehr als nur ein Recht
Gemeinsame Ressourcen alleine fördern nicht automatisch eine Harmonie. Vielmehr schaffen sie gegenseitige Abhängigkeiten. Je mehr unser Leben durch öffentliche Räume und andere Gemeingüter geprägt wird, desto enger werden wir miteinander verbunden. Die Kehrseite bedeutet aber, dass wenn wir diesen Abhängigkeiten nicht vertrauen, diese gleichzeitig schrumpfen. Wenn öffentliche Räume und kollektive Ressourcen von gegenseitigem Vertrauen geprägt sind, dann wird mit abnehmender Vertrauensfähigkeit das Potenzial für solche Räume schrittweise abnehmen. Bald gehören öffentlichen Räume nur noch den „Nutzern“, die die stärksten Ansprüche geltend machen können, während sich der Rest zurückzieht. Dabei vergessen wir wie man miteinander sprechen könnte. Wir vergessen, dass es möglich ist eine gemeinsame Basis zu suchen und zu finden.
Der Kampf für eine gerechtere, inklusive und offenere Stadt ist notwendig, aber er wird weitgehend in der Haltung der individuellen Ansprüche geführt. Die größere Herausforderung besteht nun darin, diese verschiedenen Ansprüche wieder zu einem zusammenhängenden Ganzen zusammenzufügen. Das Erkennen und Handeln in dieser Wechselbeziehung schränkt unsere Freiheit nicht unbedingt ein – sie kann sie erweitern, wenn wir lernen, mit und durch Andere zu leben und zu arbeiten.