Auf dem Weg in die transparente Gesellschaft?

Der Schrei nach mehr Transparenz ist eine Standardforderung in der politischen und gesellschaftlichen Landschaft. Wer sich informationell benachteiligt fühlt, fordert die Gegenseite auf, ihr Handeln und ihre Motive zu offen zu legen. In dieser Forderung äußert sich ein legitimer Wunsch der Waffengleichheit, in der Schlacht um Informationen und Wissen. Das strukturelle Informationsgefälle zweier Seiten auszugleichen, erscheint als ein demokratischer Weg, bestehende Machtverhältnisse, die durch Herrschaftswissen entstanden sind zu nivellieren.

Korruption? Nicht in Deutschland…

Im Dickicht des Nicht-Wahrnehmbaren gedeiht der Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil am Besten. Dabei ist es gleich, ob es um Bestechung oder Bestechlichkeit im internationalen Geschäftsverkehr oder im eigenen Land, ob Käuflichkeit in der Politik oder der Versuch, durch Schmiergelder Vorteile zu erlangen. Mangelnde Transparenz befördert Korruption  und verursacht nicht nur materielle Schäden, sondern untergräbt auch das Fundament einer Gesellschaft. Lange Zeit wurde das Problem der Korruption in Deutschland ignoriert. Zahlreiche Weltweite Korruptionsbekämpfung fängt im eigenen Land an. Das haben verschiedene Skandale in jüngster Zeit gezeigt. Korruption ist nicht nur in Politik und Wirtschaft vertreten? Nein, alle gesellschaftlichen Bereiche können strukturelle Einfallstore bieten, die Korruption befördern. Eine Transparenz der Handlungen innerhalb einer Organisation, kann ein Mittel sein, diese nicht zu zwangsläufig zu verhindern, aber deutlich zu erschweren.

Bei Korruption wird oft von einem unsichtbaren oder intransparenten Phänomen gesprochen. Beide Seiten (mindestens zwei), also Bestecher und Bestochener, haben verständlicherweise kein Interesse an einer Aufdeckung und setzen alles daran, ihr Tun zu verschleiern. Der Schlüsselbegriff der Korruptionsbekämpfung  ist deshalb die Transparenz. Da das oft schwer identifizierbare, jedenfalls aber ahnungslose Opfer nicht Alarm schlagen kann, muss überall dort Öffentlichkeit oder Transparenz hergestellt werden, wo die gegebenen Strukturen (Organisationen, Prozesse, Verhalten) korruptives Verhalten erleichtern und fördern. Was kann dem Gedanken einer völligen Transparenz entgegenstehen?

Agenten der Entblößung

Geheimdienste, Polizei und Akteure aus der datengetriebenen Wirtschaft bilden Agenten der Transparentmachung des Individuums. Die digitale Vernetzung schafft ein digitales Panoptikum, was einerseits geeignet ist, Informationen zu demokratisieren und andererseits totalitäre Ideen und Marktmonopole zu fördern. Die transparente Gesellschaft ist eher ein diffuses Konzept von Motiven und Handlungen unterschiedlicher Akteure die eins eint: der Glaube an die Notwendigkeit einer grenzenlosen Messung oder/und Überwachung.

Ist eine transparente Gesellschaft also eine wünschenswerte Utopie?

Transparenz scheint zunächst neutral. Ähnlich verhält es sich mit Offenheit, Toleranz, Akzeptanz. Von diesen Begriffen kann keine normativen Aussage oder eine politische Agenda abgeleitet werden. Sie stellen lediglich Systemwerte dar. Legitimiert die Transparenz von Organisationen gegenüber einer Gesellschaft diese und verhindert Korruption, Vetternwirtschaft und Ungerechtigkeit, steht dagegen die Transparenz des Individuums für dessen Kontrolle, Manipulation und Repression der überwachenden Instanz oder zumindest von Teilen dessen. Die Proklamation der Transparenz als erstrebenswerten Ziel von Institutionen der Macht ist daher unweigerlich mit der Frage verbunden: Welche Transparenz wem gegenüber? Und: Für welchen Preis?

Eine demokratische Transparenzgesellschaft?

Eine Skizze. Die Transparenzgesellschaft ist ein perfektes Herrschaftssystem, das keinen Herrscher mehr braucht, weil niemand ernsthaft etwas Anderes will. Die umfassende Sichtbarkeit wird durch eine allgemeine Bejahung gesichert. Alles muss sichtbar werden. Der Imperativ der Transparenz verdächtigt alles, was sich nicht der Sichtbarkeit unterwirft. In dem Anspruch einer allumfassenden Sichtbarkeit besteht die Gewalt dieser Gesellschaft. Diese Transparenz basiert auf einem allgemeinen Verdacht, der sich gegen Jeden richtet, von dem auch nur angenommen werden kann, dass er oder sie abweicht.

Deshalb muss buchstäblich jede Ecke und jede Sekunde ausgeleuchtet werden. Die Kontrolle ersetzt das Vertrauen. In einer demokratischen Gesellschaft kann dieser Absolutheitsanspruch an Transparenz zur Diktatur und einem totalitären Regime führen. Doch wo ist die Trennlinie zwischen der demokratisierenden und der totalitären Kraft der Transparenz?

Wann fängt Transparenz an?

Die Grenzen sind nicht immer eindeutig. Die diffusen Übergänge und Grauzonen zwischen was erlaubt und was nicht -zwischen dem was zufällig ist und was gewollt, sind nicht selten den Anlass grundlegende Menschen und Bürgerrechte zu relativieren. Mit veränderten Kulturtechniken kommen die Werte von Gesellschaften auf den Prüfstand. Neue Grenzen müssen ausgehandelt und Werte angepasst werden. Die Rechtsprechung kann die Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen und Normen nicht ersetzen. Die mit dem Recht in Einklang stehende Praxis, die von einer Mehrheit der Menschen nicht akzeptiert wird, zeugt nicht zwingend allein von der fortschrittlichen Praxis von Unternehmen, sondern vor allem von einem entweder unzeitgemäßen Recht oder von dem Einfluss mächtiger Akteure. Idealerweise laufen die Prozesse in demokratischen Gesellschaften mit größtmöglicher Teilhabe aller Beteiligten. Perfide ist jedoch, wenn Akteure die durch die schiere technische Machbarkeit, Kapital oder durch eine vorteilhafte Marktsituation, die Möglichkeit besitzen, Grenzen zu brechen und ihre Praxis als förderungswürdige Innovation verstanden wissen wollen. Dabei wird regelmäßig übersehen, dass technischer und gesellschaftlicher Fortschritt einhergehen kann, aber nicht zwingend muss.

Die entscheidende Frage ist, ob Menschen mit der neuen Lösung bereit sind, die alten Probleme für den Preis von neuen Probleme einzutauschen? Der Glaube an die endgültige Lösung ist Teil des Problem und der Motor für weitere Probleme. Jede Lösung schafft neue Probleme. Jede Lösung zieht immer im besten Fall eine weitere Lösung nach sich. Darin unterscheidet sie sich von der Erlösung, die auf das Ende der Probleme hindeutet. Diese Erlösung wird besonders in den Momenten suggeriert, wo Agenten der Überwachung ein „Mehr“ mit dem Versprechen einfordern, die Probleme der Gesellschaft durch ein Informationsvorsprung lösen zu können.

Wer aber denkt, er habe die endgültige Lösung aller Probleme, wird über kurz oder lang zu Gewalt greifen, um auch diejenigen, die nicht von ihr überzeugt sind zu bekehren. Das ist der totalitäre Aspekt einer Transparenzgesellschaft.

Der durchschaubare Mensch in der Antike

Ist der Wunsch nach Transparenz ein gänzlich neues Phänomen? Der Wille, einen durchschaubaren Menschen zu erschaffen, findet sich bereits in der griechischen Mythologie: In der Fabel von Äsop wählten Zeus, Athene und Prometheus, Momos zum Schiedsrichter eines Wettstreits. Er sollte die Kunstfertigkeiten der drei beurteilen. Prometheus erschaffte den Menschen, Athene das Haus und Zeus den Stier. Momos hatte an allen Schöpfungen etwas auszusetzen: Athenes Haus fehlte eine Radkonstruktion, um im Falle eines ungeliebten Nachbarn, schnell den Ort wechseln zu können.

Beim Stier von Zeus bemängelte Momos, dass die Hörner oberhalb der Augen waren: so könne der Stier nicht gut sehen, wohin er stieße. Momos tadelte auch Prometheus Werk: der Mensch hätte das Herz besser außen sichtbar zu tragen, um ihm seine schlechte Eigenschaften ansehen zu können. Das Herz in der Brust verwehre die Sicht auf den Willen des Einzelnen. Nach seiner Kritik wurde Momos von Zeus aus dem Olymp verbannt.

Gläsern oder transparent?

Seit der Antike wird der Glaskörper als Wahnvorstellung des melancholischen Seins beschreiben. Der gläserne Körper verhält sich dem transparenten gegenüber, wie die Melancholie gegenüber der Transparenz: Der gläserne Körper ist voller Bilder und Phantasmen. Beim transparenten Körper ist keine Bildkraft vorhanden, wenn er sich in Informationen und Daten auflöst.

Die Entkörperlichung des Menschen, die seine Existenz in Datenhäppchen zu Fragmentieren versucht, ist auf der Suche nach banaler Wahrheit. Nach Eindeutigkeit und Vorhersehbarkeit. Eine Suche, die aufgrund ihrer Annahme der Welt, diese nie finden wird, weil ihr das Leben als chaotischer Prozess, fremd und suspekt erscheint. Das Resultat dieser Suche ist eine übertrieben banale Zurschaustellung einzelner Artefakte, die keinen weiteren Sinn hat, als eben die Darstellung das Offensichtlichen und des Unlebendigen. Sowie die Psychoanalyse, jeden dunklen Winkel der Seele zwanghaft ausgeleuchtet sehen will, sind Agenten der Überwachung an jedem Bruchteil an Information interessiert. Doch Menschen, die durch Psychoanalyse bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet werden, werden unerträgliche Menschen. Ein Leben in einer Gesellschaft, die bis zum letzten Winkel ausgeleuchtet ist, ist ein unerträgliches Leben.

Das allwissende Auge

Die Agenten der Überwachung arbeiten stets im Dienste einer höheren Sache. Dies ist auch der Grund für ihr überhöhtes Handeln. Das richtige Leben wird durch das möglichst allwissende Auge gesichert. Transparenz stand und steht immer im Dienste einer höheren Idee. Die restlose Wahrheit zu erfahren, wird zur Struktur im Sinne der Allgemeinheit erhoben und war in der christlichen Geschichte immer mit einem Heilversprechen verbunden. Das allwissende und alles sehende Auge Gottes wurde während der Aufklärung säkularisiert.

Ein Auge welches die „unteilbare Einheit“ der französischen Republik 1792 darstellen soll, stellte nicht Gott, sondern das abstrakte Volk dar, welches jegliche Abweichung bestraft.

Jeder, der sich den Regeln der sich selbst regulierenden Gesellschaft widersetzt, wird ausgeschlossen. Jeder, der den verlangten Arbeitsstrukturen nicht folgt, wird zum Feind der behaupteten allgemeinen Freiheit erklärt. Die Erziehung während dieser Zeit sollte diese Anforderungen verinnerlichen. Sie verwirklicht Postulate der Aufklärung, die bereits im 18. Jahrhundert aufgestellt wurden. Die Aufklärung der Transparenzgesellschaft produziert eine Dunkelheit, in der nur noch bewertet und kontrolliert wird.

Sie setzte maßgeblich auf Beobachtung, so empfahl Jean-Jacques Rousseau: „ …das Kind muss sich ganz der Sache hingeben, aber Ihr müsst Euch ganz dem Kind hingeben, Ihr müsst es ohne Unterlass beobachten und belauern, ohne dass es dessen gewahr wird. Ihr müsst all seine Gefühle vorausfühlen und denen zuvorkommen, die es nicht haben darf, kurzum, es auf eine Weise beschäftigen, dass es sich nicht nur zu etwas nützlich fühlt, sondern dabei glücklich ist – weil es gut versteht, wozu das dient, was es tut.“

„Aufklärung ist das Mittel, um allen Ungehorsam für immer unmöglich zu machen“

Neue Technologien eröffnen unvorstellbare die Möglichkeiten der Überwachung. Die Transparenzgesellschaft entsteht nicht aus einer zufälligen technischen Entwicklung heraus. Auch wenn viele, hinreichende Phänomene zufällig und ungewollt entstehen, bedarf es der Einwilligung von Akteure. Im Sinn einer umfassenden Aufklärung, bedienen sie sich der Mittel totalitärer Regime. Wirkliche Aufklärung aber besteht in der Anerkennung des Anderen. Erst dann können wir sehen. Menschen, die für die NSA oder andere Geheimdiensten arbeiten, sind wahrscheinlich werden von der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit überzeugt sein. Im Dienste der höheren Sache namens Nation.

Das Transparenzdiktat

Transparenz heißt nicht das alles sichtbar ist, sondern dass das (technisch) Wahrnehmbare sichtbar wird. Die Herrschaft des Blicks – ein Blick der mit einer Angst verbunden, nicht das Falsche zu erkennen, sondern den Fehler, die Abweichung zu registrieren. Die aufklärerische Komponente ist in dieser Transparenz nicht vorhanden. Was wissen wir von dem angeblickten Menschen? Im Gegensatz zum Orwellschen Big Brother in 1982, kommt im digitalen Panoptikum die Effizienz dieser Herrschaft ohne Agenten aus. Keine Message wird zensiert, sondern die Benutzung dieser Kommunikationstechnologie wird weiter befeuert. Im Gegensatz zur umstrittenen  Volkszählung in den 1980ern, gibt es keinen Adressaten mehr. Proteste verhallen im Netz. Das Netz ist selbst die Infrastruktur der Überwachung.

Die Akteure dieser Transparenz sind zwar bekannt, aber nicht adressierbar. Proteste machen deshalb wenig Sinn. Die Diktatur der Transparenz hat zunächst keine Autorität, aber dafür eine große Macht. Dies verhindert eine plausible Analogie zu bisherigen Herrschaftssystemen. Das Gegenüber bleibt unsichtbar. So wie die Cloud als Begriff des ubiquitären Verfügbarkeit von Webdiensten dient und kein Ort im herkömmlichen Sinne ist, aber Räume durch ihren Einfluss auf die Gesellschaft physisch gestaltet, manifestiert sich die Herrschaft der Transparenz nicht durch Wirkung, sondern durch das Wirken lassen: Die neuen Akteure sind nicht restriktiv, sondern agieren permissiv. Sie erlauben uns durch sie zu interagieren, ohne uns dazu zu zwingen.

Die Macht ist unsichtbar geworden und deshalb so effektiv. Es bedarf keines zentralen Wächters mehr; das digitale Panoptikum entsteht aus der gegenseitigen Beobachtung im Netz. Diffuse Ängste vor der informativen Dunkelheit schüren den Drang nach mehr Licht, mehr Aufklärung und mehr Transparenz. Sich ihnen zu entgegnen zu stellen, ohne als fortschrittsfeindlich und paranoid zu stellen, ist nicht einfach.

Ein Panoptikum im Hosentaschenformat

Jeder trägt sein kleines Panoptikum in der Tasche. Die Kopplung von professionellen und privaten Gebrauch von Smartphones oder Tablets, macht es fast unmöglich, sie nicht zu benutzen und nicht permanent verfügbar zu sein. Die Hoffnung mit besserer Technik (z.B. Datenschutz durch Verschlüsselung) Auswüchsen dieser Praxis zu entkommen, wird enttäuscht werden: die alles umfassende Verwertungslogik persönlicher Daten ist der treibende Motor der datengetriebenen Wirtschaft.  Es ist ihr dringendster und existenziellster Wunsch so viel wir möglich zu „wissen“. Wie im Panoptikum, sehen aber Einige mehr als Andere.

Im Netz geschieht die Abgabe an Informationen zumeist unbewusst und „freiwillig“. Es bedarf keiner Zwänge, außer der inneren. Kein Sklavenhalter schwingt die Peitsche – die Nutznießer des Panoptikums möchten eine Wohlfühlumgebung schaffen, in der sich alle Teilnehmer glücklich fühlen können. Das Produkt dieser Arbeit von Freiwilligen oder Unwissenden sind ihre Daten und Informationen. Die Arbeit selbst bleibt unbezahlt. Als Gegenleistung wird Zugang zu einem hilfreichen Dienst gewährt oder eine mediale Sichtbarkeit versprochen, die gesellschaftlich existenziell zu sein scheint. Selfies – die Selbstbildnisse sind ein daraus resultierendes Phänomen.

Die Vermarktung des  Privaten

Sind Selfies das Resultat von Menschen mit narzisstischer Störung? Wohl nicht. Ein Mensch mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit und ist stark eingenommen von Phantasien des grenzenlosen Erfolgs, Macht, Schönheit oder der bedingungslosen Liebe. Er möchte ohne entsprechende Leistungen als überlegen gelten und nur durch seine schiere Existenz als überlegen anerkannt zu werden. Die besondere Einzigartigkeit verlangt nach übermäßiger Bewunderung und stellt übertriebene Erwartungen an eine besonders bevorzugte Behandlung. Der Narzisst beutet seine Umwelt durch seinen Größenwahn, Selbstfokus und seine Selbstüberschätzung aus und wirkt langfristig gesellschaftlich toxisch. Da er ein permanentes Defizit an Zurschaustellung seiner Person verspürt, sind ihm alle Techniken die dies aufzuheben scheinen, besonders wichtig.

Doch anders als oft dargestellt, bezeugen Selfies, also Fotografien des Ich vom Ich, nicht wie vorschnell einige Skeptiker vermuten, ein vom narzisstisches Selbstbild getriebenes Ego, sondern stehen vielmehr für ein fragiles Selbst, was sich zu Bestätigen sucht. So wie der Versuch sich selbst zu ähneln – was nie funktioniert. Vor der Linse sucht das unsichere Selbst die Bestätigung der Existenz: „Ich war hier – ich bin sichtbar.“

Die Verheißungen der Transparenz wirken daher nicht nur auf den Narzissten und Identitätssuchende anziehend. Auch Neugierige unterliegen den Verheißungen von der vollständigen Aufdeckung des Geheimen. An die Stelle bisheriger Autoritäten, tritt nun die scheinbare Freiheit, selber zu bestimmen, was zu sichtbar sein soll. Jeder erscheint für sich selbst verantwortlich, während dieses Selbst bereits ein Teil der Marktwirklichkeit ist.

Permanente Sichtbarkeit

Als Folge permanenter Sichtbarkeit auf diesem Markt, verfolgt das Individuum die Kontrolle und Optimierung seines medialen Images durch Ästhetisierung, Identitätsarbeit und Impression Management. Mit diesen Möglichkeiten des Selbstmanagements entsteht ein Gefühl von Selbstbestimmung und Gestaltungsfreiheit. Jeder scheint somit selbst für seine Geschicke verantwortlich. Dieser Gesellschaft anzugehören, bedeutet vor allem eine nicht endende wollende Arbeit an seinem Image. Anpassungsängste werden durch die Angst ersetzt, nicht zu genügen oder keine Verwendung innerhalb dieses Wertesystems zu besitzen. Die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie kennt weder Grenzen des Raumes, noch der Zeit. Ähnlich dem Caesarschen Daumen kennt sie nur zwei Zustände: offline oder online – like oder eben nicht. Sie hat keine Rast vorgesehen, kein Verschnaufen oder Verweilen.

Die fehlende Interaktionen am System bedeuten Passivität und Nutzlosigkeit. Das Subjekt atomisiert sich im Strom banalster Interaktionen. Durch seine Anpassung in die erfolgversprechenden Praktiken seiner Zeit, erfährt das Individuum eine weitere Reduktion seiner Selbst: durch den Konformitätsdruck taucht es im geruchlosen Median aller anderen Individuum unter und unternimmt infolgedessen noch größere Anstrengungen, um seine verloren gegangene Einzigartigkeit zu bestätigen. Durch weitergehende, intimere oder drastischere Darstellung, kann es sich zum vollständig banalen Objekt degradieren, wie man es aus TV-Formaten des „Reality TV“ kennt. Die darauffolgenden Depression ist nach dem medialen Aufstieg an die Oberfläche der Aufmerksamkeit dagegen deutlich schwieriger zu verwerten.

Messe und teile!

Ob der Erkenntnisgewinn, der aus persönlichen, gesundheitlichen und sportlichen Daten die durch Self-Tracker gemessen, verhältnismäßig ist, scheint heute vornehmlich eine individuelle Einschätzung zu sein. Erst langsam werden Sensoren und Tracker auch von Unternehmen genutzt, um ihre Kunden freiwillig messen zu lassen, um zu erfahren, was in ihrem Körper vorgeht. Aus dieser Freiwilligkeit zum De-Facto-Standard ist kein langer Weg. Ähnlich dem medialen Selbstbild, wird der passiv Handelnde, der restriktiv mit der Preisgabe seiner Daten handelt, ins Hintertreffen geraten. Wer innerhalb dieses Systems nicht durchleuchtet werden möchte, wird zum unberechenbaren Kunden und suspekten Bürger. Ein unkalkulierbarer Risiko. Intransparenz wird in einer transparenten Gesellschaft zum Privileg der finanziell besser gestellten.

Knecht und Herr in einer Person

Das transparente Individuum geht diese Art der Selbstausbeutung aus freien Stücken ein. Es ist ein Unternehmer seiner selbst. Ein Überwacher seiner selbst. Er ist Herr und Knecht zugleich. Doch wenn er Aufseher und Gefangener gleichzeitig ist, kann er niemals ausbrechen, er bleibt ein absoluter Gefangener. Die Effizienz dieser Herrschaft der transparenten Gesellschaft ist die Freiwilligkeit. Ein Umstand, der nicht von außen als sozialer Druck der Peer-Group entsteht, sondern als Ehrgeiz oder aus einer zweckrationalen Überlegung. Die Darstellung des Ich geschieht nicht aus Lust, sondern aus zweckrationalen, ökonomischen Gründen. Das Unsichtbare scheint wertlos in dieser Ökonomie der umfassenden Darstellung.

Mehr statt weniger Opazität?

Transparenz hat sich von dem Anspruch, Herrschaftswissen von oben nach unten durchlässiger zu gestalten, zur obszönen Überwachung aller Subjekte gewandelt. Die Herrschaftsform dieser neuen Transparenzgesellschaft ist unter diesen Umständen ungeklärt. Der Transparenzzwang dem Individuum gegenüber, welcher unter anderem durch Geheimdienste durchgesetzt wird, stabilisiert das vorhandene System effektiv. Das Subjekt ist sich seiner Unterwerfung weniger bewusst. Durch Bestätigung und Optimierung des Individuums entfällt die Systemfrage. Anläufe der Verschleierung und Verschlüsselung gelten als subversiv und verdächtig.

Die Perversion erreicht in der Umkehr des Anspruches vom transparenten Staat hin zum transparenten Bürgern ihren Klimax. In einer transparenten Gesellschaft braucht es kaum Kontrolle von oben. Das Individuum kontrolliert sich selbst. Seine sozialen Gruppen kontrollieren es. Transparente Nutzer stehen intransparenten Unternehmen und einem überwachendem Staat gegenüber. Ein grundlegendes Misstrauen allem und jedem Gegenüber, sowie die Vorstellung das Leben maximal kontrollieren zu können, sind Motoren dieser paranoiden Maschine, die denjenigen Verfolgungswahn attestieren möchte, die sich ihrem Treiben nicht unterwerfen möchten. Transparenz kann als gesellschaftlich erwünscht betrachtet werden, wenn sie einer verspiegelten Sonnenbrille gleicht: Das Individuum kann die Sonne der Mächtigen betrachten, ohne dass diese wiederum ihre Augen erkennen.

Transparenz und Schutz der Privatsphäre sind kein Gegensatz, sondern zwei Seiten derselben Medaille. In einer demokratischen Gesellschaft kann das Eine nicht ohne das Andere bestehen.

Damian Paderta
Damian Paderta
Webgeograph & Digitalberater